Am ersten Tag - Roman
und nutzen Sie den Tag. Gegen Mittag können Sie eine kleine Mahlzeit zu sich nehmen. Was mich angeht, so treffe ich Sie erst später wieder. Jetzt muss ich meditieren.«
Er zog sich zurück. Die sechs Mönche erhoben sich und verließen ebenfalls den Saal.
»Glaubst du, das ist ihr Chef?«, fragte ich Keira.
»›Chef‹ dürfte wohl nicht die richtige Bezeichnung sein. Die Hierarchie bei den Buddhisten ist eher spiritueller als formeller Art.«
»Noch heute Morgen hätte man ihn für einen einfachen Bettler halten können.«
»Diese Mönche legen ein Armutsgelübde ab. Sie dürfen nichts weiter besitzen als ihre Gedanken.«
Nachdem wir uns erfrischt hatten, unternahmen wir einen Spaziergang in der näheren Umgebung. Unter einer Weide ließen wir uns nieder und gaben uns der Schönheit und Milde dieses Ortes hin, der außerhalb der Zeit und der Zivilisation zu liegen schien.
Der Tag verging, und als es Nacht wurde, erklärte ich Keira die Sterne, die am Himmel erschienen. Nach einer Weile gesellte sich der Lama zu uns.
»Sie begeistern sich also für Astronomie«, sagte er zu mir.
»Woher wissen Sie das?«
»Reine Frage der Beobachtung. Wenn es Abend wird, betrachten
die Menschen für gewöhnlich den Sonnenuntergang, Sie aber haben den Himmel mit den Augen abgesucht. Astronomie fasziniert mich auch. Wie soll man den Weg der Weisheit gehen, ohne an die Größe des Universums zu denken und sich Fragen zur Unendlichkeit zu stellen?«
»Ich bin alles andere als ›weise‹, doch ich stelle mir diese Fragen seit meiner Kindheit.«
»Als Kind waren Sie die Weisheit selbst«, sagte der Lama. »Und auch heute leitet Sie noch die Stimme des Kindes. Schön, dass Sie diese immer noch hören.«
»Wo sind wir?«, wollte Keira wissen.
»In einer Einsiedelei, an einem privaten Ort, dessen Schutz Sie genießen.«
»Wir waren nicht in Gefahr«, erwiderte Keira.
»Das habe ich auch nicht gesagt, doch sollte es der Fall sein, wären Sie hier in Sicherheit, vorausgesetzt, Sie halten unsere Regeln ein.«
»Und welche sind das?«
»Es sind nicht viele, das kann ich Ihnen versichern: zum Beispiel vor Tagesanbruch aufstehen, die Erde bearbeiten, um die Nahrung zu verdienen, die sie uns bietet, nach keiner Form von Leben trachten, egal ob Mensch oder Tier. Doch ich bin sicher, dass Sie keine solchen Absichten hegen. Ach, das hätte ich fast vergessen: nicht lügen.«
Der Lama wandte sich jetzt an Keira.
»Ihr Begleiter ist also Astronom, und womit beschäftigen Sie sich im Leben?«
»Ich bin Archäologin.«
»Eine Archäologin und ein Astronom, welch eine schöne Vereinigung.«
Ich sah Keira an, die Worte des Lamas schienen sie regelrecht zu fesseln.
»Und haben Sie auf dieser Urlaubsreise schon Neues entdeckt?«
»Wir sind keine Touristen«, gestand Keira.
Ich bedachte sie mit einem missbilligenden Blick.
»Keine Lügen, hieß es!«, sagte sie und fuhr fort: »Wir sind eher …«
»Forscher?«, fragte der Lama.
»In gewisser Weise, ja.«
»Was suchen Sie?«
»Eine weiße Pyramide.«
Der Lama lachte auf.
»Was ist daran so lustig?«, wollte Keira wissen.
»Nun, haben Sie Ihre weiße Pyramide gefunden?«, erkundigte sich der Lama, noch immer schmunzelnd.
»Nein, wir wollten nach Xi’an fahren und hofften, sie unterwegs zu finden.«
Der Lama brach jetzt in lautes Gelächter aus.
»Aber was ist denn so komisch an dem, was ich gesagt habe?«
»Ich bezweifele, dass Sie diese Pyramide in Xi’an finden werden, doch Sie haben nicht ganz unrecht. Sie befindet sich trotzdem auf Ihrem Weg, direkt vor Ihnen«, fügte der Lama noch vergnügter hinzu.
»Er scheint sich über uns lustig zu machen«, sagte Keira gereizt zu mir.
»Nicht im Geringsten, das müssen Sie mir glauben«, erwiderte der Lama.
»Dann erklären Sie mir jetzt, warum Sie lachen, sobald ich den Mund aufmache.«
»Ich bitte Sie, erzählen Sie meinen Schülern nicht, dass ich mich in Ihrer Gegenwart so köstlich amüsiert habe. Was den Rest angeht, so schwöre ich, Ihnen morgen alles zu erklären. Es
wird Zeit, dass ich mich zum Meditieren zurückziehe. Ich sehe Sie im Morgengrauen wieder. Seien Sie pünktlich.«
Wir schliefen tief und fest in dieser Nacht, bis Keira mich schüttelte und aus einem Traum riss.
»Komm«, sagte sie, »es wird Zeit. Ich höre schon die Mönche im Hof, der Tag bricht gleich an.«
Vor die Tür des Raums, der uns als Schlafzimmer diente, hatte man uns ein Tablett mit einer kleinen Stärkung gestellt. Ein
Weitere Kostenlose Bücher