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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Schrei aus und rutschte dem Abgrund entgegen. Ich sprang auf und weiß bis heute nicht, durch welches Wunder ich nicht das Gleichgewicht verlor. Ich bekam sie gerade noch beim Kragen ihres Anoraks zu fassen und griff mit der anderen Hand nach ihrem Arm. Sie hing im Freien, der Wind pfiff immer heftiger und peitschte unerbittlich über uns hinweg. Ich höre sie noch heute flüstern:
    »Adrian, lass mich nicht fallen!«
    Doch wie sehr ich mich auch bemühte, der Wind wollte nicht von ihr lassen. Sie krallte sich an der Steilwand fest. Am Boden ausgestreckt versuchte ich sie hochzuziehen.
    »Du musst mithelfen!«, brüllte ich. »Los, stütz dich mit den Füßen ab!«

    Das Manöver war äußerst gefährlich. Um überhaupt eine Chance zu haben, musste sie den Mut finden, eine Hand loszulassen, um sich an meinem Arm festzuhalten. Wenn es den Gott der verborgenen Welten gibt, so hat er Keiras Gebet erhört. Der Wind ließ allmählich nach. Sie löste die Finger ihrer rechten Hand und klammerte sich an meinen Arm. Diesmal gelang es mir, sie unter Aufbietung aller Kräfte hochzuziehen.
    Wir brauchten eine Stunde, um uns wieder zu beruhigen. Die Angst war nicht verschwunden, doch an ein Umkehren war nicht zu denken. Keira erhob sich langsam und half mir auf. Der Anblick der Felswand, die uns erwartete, war furchterregend. Warum war ich so töricht gewesen, nicht »ja« zu sagen, als Keira vorgeschlagen hatte kehrtzumachen? Wie hatte ich so leichtfertig sein können, uns in ein derart verrücktes Abenteuer zu verstricken? Keira musste das Gleiche denken wie ich. Sie hob den Kopf und schätzte die Entfernung ab, die uns noch vom Gipfel trennte. Der Tempel, der sich auf der Bergspitze befinden musste, war noch nicht in Sichtweite. In den Fels geschlagene Eisensprossen führten senkrecht nach oben. Wären sie nicht so rutschig gewesen, hätte sich das Tal nicht zweitausend Meter unter unseren Füßen erstreckt, wäre es eine einfache Leiter gewesen, die allerdings aus fünfhundert Tritten bestand. Unser Ziel befand sich fünfhundert Meter über uns. Jetzt ging es darum, einen kühlen Kopf zu bewahren. Keira fragte mich, ob ich ihr nun die Liste mit den Dingen, die mir an ihr gefielen, aufsagen könnte.
    »Das wäre der rechte Augenblick«, sagte sie. »Ich hätte nichts dagegen, auf andere Gedanken zu kommen.«
    Ich hätte gerne ihrem Wunsch entsprochen, denn die Liste wäre lang genug gewesen, um Keira abzulenken, bis wir diesen verfluchten Tempel erreicht hätten, doch ich war zu nichts anderem in der Lage, als zu sehen, wo sich meine Hände festklammerten.
Und so kletterten wir schweigend weiter. Wir hatten es noch lange nicht geschafft. Wir mussten eine weitere lange Brücke passieren, die nur einen Fuß breit war.
     
    Als es fast sechs Uhr war und sich die Dunkelheit näherte, sagte ich zu Keira, wenn das Kloster nicht innerhalb der nächsten halben Stunde in Sicht käme, müssten wir uns ernsthaft um einen Unterschlupf für die Nacht kümmern. Das war natürlich völlig absurd, denn an der Felswand, an der wir uns entlanghangelten, war weit und breit keine Nische in Sicht.
    Keira schien ihr Schwindelgefühl in den Griff zu bekommen. Ihre Bewegungen wurden geschmeidiger und flinker. Vielleicht wusste sie besser als ich, ihre Angst zu bewältigen.
    Schließlich, als wir den endlosen Hang erklommen hatten, erstreckte sich vor uns eine Hochebene, auf der wie in einem Traum das Kloster mit dem roten Dach auftauchte, und dahinter führte ein langer Kamm bis zur Spitze des Berges. Erschöpft ließ sich Keira unter einer der großen Kiefern nieder. Die Luft war so rein, dass sie uns in der Kehle brannte.
    Der Tempel war beeindruckend. Sein Sockel war in das Granitgestein geschlagen, darüber erhoben sich zwei Stockwerke mit sechs großen Fensteröffnungen. Eine Außentreppe führte hinauf zum Eingang. Am Anfang eines schmalen Hofs stand eine Pagode, deren Dachvorsprung ein wenig Schatten spendete. Ich musste wieder an den beschwerlichen Weg denken, auf dem wir bis hierher gelangt waren, und fragte mich, durch welches Wunder der Mensch hier ein solches Bauwerk hatte errichten können. Waren die Holzrahmen vor Ort geschnitzt worden, bevor sie zusammengefügt wurden?
    »Wir haben es geschafft«, sagte Keira. Sie hatte Tränen in den Augen.
    »Ja, wir haben es geschafft.«

    »Schau hinter dich«, sagte sie.
    Ich drehte mich um und sah eine Steinskulptur - einen seltsamen Drachen mit mächtiger Mähne.
    »Es ist ein Löwe«, sagte

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