Am ersten Tag - Roman
Schüler führte uns zu dem Badezimmer und bedeutete uns durch Gesten, uns zuerst Hände und Gesicht zu waschen, bevor wir das Essen anrührten, das uns angeboten würde. Danach bedeutete er uns, uns hinzusetzen und unser Frühstück in aller Ruhe einzunehmen.
Wir verließen das Kloster und begaben uns querfeldein zu der Weide, wo wir verabredet waren. Der Lama erwartete uns bereits.
»Ich hoffe, Sie hatten eine gute Nacht.«
»Ich habe wie ein Säugling geschlafen«, erwiderte Keira.
»Sie suchen also eine weiße Pyramide? Was wissen Sie darüber?«
»Laut meinen Informationen ist sie mehr als dreihundert Meter hoch und somit die größte Pyramide der Welt.«
»Sie ist sogar noch höher als das«, sagte der Lama.
»Dann gibt es sie also wirklich?«, fragte Keira.
Der Lama lächelte.
»Ja, in gewisser Weise existiert sie schon.«
»Und wo befindet sie sich?«
»Wie ich Ihnen gestern gesagt habe, liegt sie genau vor Ihnen.«
»Entschuldigen Sie, aber Rätselraten ist nicht meine Stärke. Wenn Sie uns einen kleinen zusätzlichen Hinweis geben könnten, wären wir Ihnen unendlich dankbar.«
»Was sehen Sie am Horizont?«, fragte der Lama.
»Berge.«
»Es handelt sich um den Gebirgszug Qin Ling. Wissen Sie, wie der höchste Berg heißt, der, den Sie dort drüben sehen?«
»Nein«, erwiderte Keira.
»Hua Shan. Er ist schön, nicht wahr? Es ist einer unserer fünf heiligen Berge. Seine Geschichte ist sehr lehrreich. Vor etwas mehr als zweitausend Jahren wurde am Fuß seines westlichen Hangs ein taoistischer Tempel errichtet. Dieser Tempel beherbergte weise Gelehrte, die glaubten, der Gott der verborgenen Welten würde auf den Gipfeln dieser Berge wohnen. Kou Quianzhi, ein Mönch aus dem fünften Jahrhundert, gründete den Himmlischen Orden des Nordens. Er schwor, eine gewaltige Entdeckung gemacht zu haben, eine Offenbarung, sagte er. Der Hua Shan hat fünf Gipfel - einen im Osten, einen im Westen, einen im Norden, einen im Süden und einen in der Mitte. Aber wie würden Sie seine generelle Form beschreiben?«
»Spitz.«
»Bitte schauen Sie genau hin. Sehen Sie sich den Hua Shan genau an und denken Sie weiter nach.«
»Er ist dreieckig«, meldete ich mich zu Wort.
»Das stimmt. Und Anfang Dezember schmückt sich der höchste Gipfel mit einer prächtigen Schneedecke. Seinerzeit war es ewiger Schnee, heute schmilzt er gegen Ende des Frühjahrs und kommt erst wieder, wenn es kalt wird. Schade, dass Sie nicht länger bleiben und den Hua im Wintergewand sehen können, denn zu dieser Jahreszeit ist er von unvergleichlicher Schönheit. Jetzt eine letzte Frage: Welche Farbe hat der Schnee?«
»Weiß …«, murmelte Keira, die zu verstehen begann, dass der Lama uns dazu führen wollte, selbst auf die Lösung zu kommen.
»Ihre Weiße Pyramide befindet sich vor Ihnen. Jetzt verstehen Sie sicher besser, warum ich gestern so gelacht habe.«
»Wir müssen unbedingt raufsteigen!«, sagte Keira.
»Dieser Gebirgszug ist besonders gefährlich«, fuhr der Lama fort. »Es gibt einen Pfad, der entlang der Hänge in den Fels geschlagen ist, der Heilige Weg. Er führt zum Gipfel nicht nur des Hua Shan, sondern auch der fünf heiligen Berge Chinas. Man nennt ihn ›Pfeiler der Wolken‹.«
»Haben Sie Pfeiler gesagt?«, fragte Keira.
»Ja, so nannte man diese Felsspitze in alten Zeiten. Sind Sie sicher, dass Sie sich dorthin begeben wollen? Der Heilige Weg ist voller Gefahren.«
Als ich Keira ansah, wusste ich sofort, dass wir, Risiko hin oder her, zum Gipfel des Hua Shan aufsteigen würden. Sie war entschlossener denn je. Der Lama beschrieb uns in tausend Einzelheiten, was uns erwartete. Fünfzehn Kilometer Stufen, die in den Granit geschlagen waren, führten zu einem ersten Grat. Von dort aus konnte man über halsbrecherische Brücken Felsspalte und Abgründe überwinden. Der Heilige Weg erlaubte es dem Kühnsten und Unbeirrbarsten, beseelt von unerschütterlichem Glauben, den Tempel Gottes in zweitausendsechshundert Meter Höhe auf dem Nordgipfel zu erreichen.
»Der geringste Fehltritt, die kleinste Unsicherheit kann tödliche Folgen haben. Geben Sie Acht auf das Eis, das selbst um diese Jahreszeit oft noch die oberen Steinstufen bedeckt. Wenn Sie ausrutschen, gibt es kaum Möglichkeiten, irgendwo Halt zu finden. Und sollte einer von Ihnen stürzen, darf der andere nicht versuchen, ihn zu retten, da er unweigerlich mit in den Abgrund gerissen würde.«
Wir waren gewarnt, doch der Lama versuchte nicht, uns zu
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