Am ersten Tag - Roman
Nacht bei sich aufgenommen hatte. Ich entriegelte die Türen, der Mann bedankte sich und ließ sich auf der Rückbank nieder. Er öffnete sein Bündel und bot mir an, die paar Kekse, die wohl sein ganzes Abendessen darstellten, mit mir zu teilen. Ich nahm einen, weil es ihm wirklich Freude zu machen schien. Wir konnten kein Wort miteinander wechseln, doch unsere Blicke reichten zur Verständigung aus. Er gab mir einen zweiten für Keira. Sie schlief fest, und so legte ich ihn vor sie auf das Armaturenbrett. Der Mann schien glücklich. Nach diesem kärglichen Mahl streckte er sich auf seinem Sitz aus und schloss die Augen. Ich tat es ihm gleich.
Ich wachte frühmorgens als Erster auf. Keira räkelte sich, und ich gab ihr durch ein Zeichen zu verstehen, keinen Lärm zu machen. Wir hätten einen Gast, der sich auf der Rückbank ausruhte.
»Wer ist das?«, fragte sie im Flüsterton.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Vermutlich ein Bettler. Er lief allein die Straße entlang. Die Nacht war eisig.«
»Du hast gut daran getan, ihn im Gästezimmer unterzubringen. Wo sind wir?«
»Mitten im Nirgendwo und hundertfünfzig Kilometer von Xi’an entfernt.«
»Ich habe Hunger«, sagte Keira.
Ich deutete auf den Keks. Sie nahm ihn, roch daran, zögerte einen Augenblick und verschlang ihn dann gierig.
»Ich habe immer noch Hunger. Ich träume von einer Dusche und einem richtigen Frühstück.«
»Wir finden unterwegs sicher ein Lokal, wo wir etwas essen können.«
Der Mann wachte auf. Er brachte Ordnung in seine Kleider und grüßte Keira, indem er die Hände zusammenlegte. Keira grüßte auf die gleiche Weise zurück.
»Idiot, das ist ein buddhistischer Mönch«, sagte sie. »Er scheint auf Pilgerreise zu sein.«
Keira bemühte sich, mit unserem Gast zu kommunizieren, und wechselte eine Reihe von Handzeichen mit ihm. Schließlich wandte sie sich zufrieden zu mir.
»Fahr los, wir setzen ihn ab.«
»Soll das heißen, er hat dir seine Adresse gegeben, und du hast ihn sofort verstanden?«
»Nimm diesen Weg dort und vertrau mir.«
Der Jeep rumpelte von rechts nach links, als wir den Hügel erklommen. Die Landschaft war schön, Keira schien nach etwas Ausschau zu halten. Nach einem Pass führte die Straße hinab in einen Wald aus Kiefern und Lärchen. Als wir diesen hinter uns gelassen hatten, verlor sich der Weg. Der Mann machte uns ein Zeichen, anzuhalten und den Motor abzustellen. Wir mussten jetzt laufen. Am Ende des Pfades, den er uns
wies, rauschte ein Bach, dem wir eine Zeit lang folgten, um ihn schließlich an einer Furt zu überqueren. Jetzt ging es wieder steil bergauf, und plötzlich nach einer Biegung lag ein Kloster vor uns.
Sechs Mönche liefen auf uns zu. Sie verneigten sich vor unserem Lama und baten uns, mit ihnen zu kommen. Sie geleiteten uns in einen großen Saal mit weißen Wänden und ohne jedes Mobiliar. Nur ein paar Teppiche bedeckten den Boden. Man brachte uns Tee herbei, Reis und Mantous, kleine Brötchen aus Weizenmehl. Nachdem sie uns bedient hatten, zogen sich die Mönche zurück und ließen Keira und mich allein.
»Kannst du mir erklären, was wir hier tun?«, fragte ich.
»Wir wollten doch frühstücken, oder?«
»Ich hatte an ein Restaurant gedacht, nicht an ein Kloster«, flüsterte ich.
Unser Führer betrat den Raum. Er hatte seine Lumpen abgelegt und trug jetzt ein langes rotes Gewand mit einem fein bestickten Seidenschal als Gürtel. Die sechs Mönche, die uns empfangen hatten, folgten ihm und nahmen im Schneidersitz hinter ihm Platz.
»Danke, dass Sie mich hierherbegleitet haben«, begann der Mann und verneigte sich.
»Sie haben uns nicht gesagt, dass Sie perfekt Französisch sprechen«, meinte Keira verwundert.
»Ich kann mich nicht erinnern, gestern Nacht oder heute Morgen überhaupt etwas gesagt zu haben. Ich bin um die halbe Welt gereist und habe Ihre Sprache studiert«, fuhr er, an Keira gewandt, fort. »Was suchen Sie hier?«
»Wir sind Touristen, wir bereisen die Gegend«, antwortete ich.
»Wirklich? Nun, die Provinz Shaanxi bietet eine Fülle an Sehenswürdigkeiten. Es gibt allein über tausend Tempel in
dieser Region. Die Jahreszeit ist günstig für den Tourismus, denn die Winter sind hier besonders hart. Der Schnee ist zwar wunderschön, erschwert aber alles. Sie sind in unserem Kloster willkommen. Ein Badezimmer steht Ihnen zur Verfügung, Sie können sich dort frisch machen. Meine Schüler haben im Nachbarraum Matten für Sie ausgelegt. Ruhen Sie sich aus
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