Am ersten Tag - Roman
alte Herr hatte faszinierende Augen.
»Ich habe die Großeltern von Toumai und Ardipithecus Kadabba gesucht. An manchen Tagen habe ich sogar gehofft, die ihrer Urgroßeltern zu finden.«
»Sonst nichts? Sie wollten das älteste Skelett finden , das man den Hominiden Toumai und Ardipithecus Kadabba zuordnen kann? Den Frühmenschen?«
»Suchen wir nicht alle danach? Warum sollte ich mir diesen Traum versagen?«
»Und warum gerade im Omo-Tal?«
»Vielleicht weibliche Intuition?«
»Bei einer Fossilienjägerin? Mal ernsthaft!«
»Gut geraten!«, erwiderte Keira. »Ende des zwanzigsten Jahrhunderts waren wir davon überzeugt, dass Lucy , eine junge Frau, die vor mehr als drei Millionen Jahren gestorben ist, die Mutter der Menschheit wäre. Im letzten Jahrzehnt, doch das muss ich Ihnen wohl nicht erst sagen, haben die Paläoanthropologen
hominine Gebeine gefunden, die über acht Millionen Jahre alt waren. Die Fachwelt diskutiert, um nicht zu sagen streitet, bis heute darüber, welche Nachkommenschaften der menschlichen Art zuzuordnen oder nicht zuzuordnen sind. Ob unsere Ahnen Zwei- oder Vierbeiner waren, ist für mich unwichtig. Ich glaube sogar, dass es bei der Diskussion um den Ursprung des Menschen eigentlich gar nicht wirklich darum geht. Alle denken nur an die Mechanik des Skeletts, die Lebensform, die Ernährung.«
Die Kellnerin näherte sich, Ivory winkte ab.
»Das klingt recht anmaßend. Und was definiert Ihrer Meinung nach den Ursprung des Menschen?«
»Das Denken, die Gefühle, die Vernunft! Was uns von anderen Arten unterscheidet, ist weder die Frage, ob es Vegetarier oder Fleischfresser waren, noch die, wie gut sie laufen konnten. Bei den meisten Versuchen herauszufinden, woher wir kommen, wird nicht berücksichtigt, was wir heute sind: komplexe und äußerst vielseitige Raubtiere: fähig zu lieben, zu töten, aufzubauen, uns selbst zu zerstören, den Überlebensinstinkt zu negieren, der das Verhalten aller Tierarten bestimmt. Wir verfügen über eine außerordentliche Intelligenz, über ein ständig fortschreitendes Wissen, und doch sind wir in vielerlei Hinsicht Ignoranten. Aber wir sollten unsere Getränke ordern, die Bedienung versucht es bereits zum zweiten Mal.«
Ivory bestellte zwei Kännchen Tee und beugte sich zu Keira.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie ausgerechnet das Omo-Tal gewählt und wonach Sie dort wirklich gesucht haben.«
»Ob wir nun Europäer, Asiaten oder Afrikaner sind, welche Hautfarbe wir auch immer haben mögen, wir alle haben ein identisches Gen, wir stammen alle von demselben Wesen ab. Wir sind mehrere Milliarden, jeder unterscheidet sich vom anderen, und doch stammen wir alle von einem Wesen ab. Wie
ist es auf die Erde gekommen und warum? Dieses Wesen, diesen ersten Menschen suche ich! Und ich könnte mir vorstellen, dass er über zehn oder zwanzig Millionen Jahre alt ist.«
»Mitten aus dem Paläozoikum? Sie haben ja den Kopf verloren!«
»Sehen Sie, ich hatte doch recht, was die Statistik betrifft, und jetzt langweile ich Sie mit meinen Geschichten!«
»Ich habe gesagt, dass Sie den Kopf verloren haben, nicht den Verstand!«
»Sehr feinfühlig! Und welche Forschungen betreiben Sie, Ivory?«
»Ich bin in einem Alter, in dem man nur noch so tut als ob und in dem alle um einen herum vorgeben, es nicht zu bemerken. Ich suche nichts mehr; in diesem Lebensabschnitt zieht man es vor, seine Akten zu ordnen, statt neue anzulegen. Aber sehen Sie mich nicht so an, wenn Sie wüssten, wie alt ich wirklich bin, wären Sie sicher der Meinung, dass ich meine Sache recht gut mache. Versuchen Sie bitte nicht, mich danach zu fragen, das ist ein Geheimnis, das ich mit ins Grab nehme.«
Keira beugte sich zu Ivory vor, sodass der Anhänger zutage kam, den sie um den Hals trug.
»Man sieht es Ihnen nicht an.«
»Nett, dass Sie mir das sagen, aber ich weiß es. Möchten Sie, dass wir etwas mehr über diesen eigenartigen Gegenstand herausfinden?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es sich nur um das Geschenk eines kleinen Jungen handelt.«
»Aber gestern schienen Sie geneigt, den wahren Ursprung herauszufinden.«
»Ja, warum nicht?«
»Wir könnten zunächst versuchen, ihn zu datieren. Wenn
es sich wirklich nur um ein Stück Holz handelt, reicht eine einfache Radiokohlenstoffdatierung aus.«
»Sofern er nicht älter als fünfzigtausend Jahre ist.«
»Ziehen Sie das in Betracht?«
»Seit ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe, Ivory, bin ich misstrauisch,
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