Am ersten Tag - Roman
glücklich über diese neue Herausforderung, dass Keira es nicht übers Herz brachte abzuspringen.
»Ich denke, Sie bekommen ihn am Mittwoch zurück. Ich schicke ihn per Eilpost. Inzwischen werde ich suchen, ob ich im Bildbestand meiner alten Bücher irgendetwas Vergleichbares finde.«
»Sind Sie sicher, dass sich die ganze Mühe lohnt«, fragte Keira.
»Aber von welcher Mühe sprechen Sie? Ich sehe darin nur Positives. Ausnahmsweise wartet Arbeit auf mich, und das nur, weil ich Ihnen begegnet bin.«
»Danke, Ivory«, erwiderte Keira und legte auf.
Die Woche verging. Keira nahm zu Freunden und ehemaligen Kollegen, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, wieder
Kontakt auf. Fast jeden Abend gab es ein Essen in einem Restaurant oder in der Wohnung ihrer Schwester. Die Gespräche drehten sich meist um dieselben Themen, die Keira fremd waren und sie sichtlich langweilten. Das hatte ihr Jeanne nach einem Abend, an dem sich Keira besonders fehl am Platze gefühlt hatte, zum Vorwurf gemacht.
»Wenn alles so fade ist, komm einfach nicht mehr mit!«
»Aber ich fand es gar nicht fade.«
»Dann sag Bescheid, wenn du dich wirklich langweilst, damit ich mich darauf einstellen kann. Bei Tisch hast du den Eindruck eines gestrandeten Walrosses gemacht.«
»Mensch, Jeanne, ehrlich, wie hältst du solches Gequatsche nur aus!«
»Das nennt man gesellschaftliches Leben!«
»Gesellschaftliches Leben?«, spottete Keira und winkte ein Taxi heran. »Dieser Typ, der alle Banalitäten aus den Zeitungen wiederholt und uns einen endlosen Vortrag über die Krise aufgezwungen hat? Und sein Nachbar, der sich von den Sportergebnissen nährt wie ein Affe von Bananen? Diese unreife Psychologin mit ihren Gemeinplätzen über die Untreue? Der Anwalt, der sich zwanzig Minuten über den Wiederanstieg der Kriminalität in den Städten ausgelassen hat, nur weil man ihm seine Vespa geklaut hat? Drei Stunden absoluter Zynismus! Theorien und Gegentheorien über die menschliche Verzweiflung, das ist erbärmlich!«
»Du liebst niemanden, Keira!«, hatte Jeanne gesagt, als sie vor ihrem Haus aus dem Taxi gestiegen waren.
Der Streit war erst spät in der Nacht beendet worden, und am nächsten Tag begleitete Keira ihre Schwester doch erneut zu einem solchen Treffen. Vielleicht, weil die Einsamkeit, die sie in letzter Zeit durchlebt hatte, größer war, als sie sich eingestehen wollte.
Am darauf folgenden Wochenende, als im Jardin des Tuileries ein Wolkenbruch drohte, traf sie auf Max. Beide rannten über die Hauptallee, um rechtzeitig das Eingangstor Castiglione zu erreichen, ehe der Schauer losbrach. Außer Atem blieb Max am Fuß des Sockels stehen, auf dem zwei bronzene Löwen ein Rhinozeros angriffen. Keira lehnte sich an den Sockel gegenüber, auf dem zwei Löwinnen ein sterbendes Wildschwein zerrissen.
»Max? Bist du’s?«
Max war zwar attraktiv, aber absolut kurzsichtig. Doch auch wenn er durch seine beschlagenen Brillengläser nichts als Nebel sah, hätte er Keiras Stimme unter Hunderten wiedererkannt.
»Du bist in Paris?«, fragte er überrascht und wischte sich die Brille ab.
»Wie du siehst.«
»Ja, jetzt sehe ich es«, erklärte er, nachdem er seine Brille wieder aufgesetzt hatte. »Bist du schon lange hier?«
»Im Park? Eine gute halbe Stunde«, erwiderte Keira verlegen.
Max musterte sie durchdringend.
»Ich bin seit einigen Tagen zurück«, gab sie schließlich zu.
Ein Donnergrollen trieb sie unter die Arkaden der Rue de Rivoli. Ein sintflutartiger Regen setzte ein.
»Wolltest du mich irgendwann anrufen?«, wollte Max wissen.
»Ja, natürlich.«
»Warum hast du es dann nicht getan? Entschuldige, ich überschütte dich mit dummen Fragen. Wenn du Lust gehabt hättest, mich zu sehen, hättest du dich sicher gemeldet.«
»Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte.«
»Du hattest recht, wir brauchten nur darauf zu warten, dass unsere Wege sich per Zufall kreuzen und…«
»Ich freue mich, dich zu sehen«, fiel ihm Keira ins Wort.
»Ich mich auch.«
Max schlug vor, etwas in der Bar des Hotel Meurice zu trinken.
»Wie lange bleibst du? Jetzt fange ich schon wieder mit meinen Fragen an!«
»Das macht nichts«, entgegnete Keira. »Ich habe sechs Abende hinter mir, an denen die Leute nur über Politik, Streiks, Geschäfte und dummen Tratsch geredet haben. Niemand schien sich mehr für den anderen zu interessieren, am Ende hatte ich das Gefühl, unsichtbar zu sein. Ich hätte mich mit meiner Serviette aufhängen
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