Am ersten Tag - Roman
hast du zum Teil selbst zu verantworten, du bist die Ältere und warst immer mein Vorbild.«
»Vergiss es, Keira.«
»Natürlich, ich habe keine Lust, mich auf dein Spiel einzulassen!«
»Welches Spiel?«
»Wer von uns beiden zuerst Schuldgefühle beim anderen weckt! Ich sitze dir gegenüber, ich und nicht mein Foto oder mein Spiegelbild, also sieh mich an und rede mit mir.«
Jeanne erhob sich, doch Keira hielt sie am Handgelenk zurück und zwang sie, sich wieder zu setzen.
»Du tust mir weh!«
»Ich bin Paläontologin, ich arbeite nicht im Museum, und ich habe seit Jahren keine Zeit, einen Pierre, Antoine oder Jérôme kennenzulernen. Ich habe keine Kinder, ich habe das ungewöhnliche Glück, einem schwierigen Beruf nachzugehen, den ich liebe, und eine Leidenschaft auszuleben. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Wenn du dich in deinem Leben langweilst, projizier das bitte nicht auf mich, und wenn ich dir fehle, dann such nach einer etwas netteren Art, es mir zu sagen.«
»Du fehlst mir, Keira«, stieß Jeanne hervor und verließ die Küche.
Keira betrachtete ihr Gesicht im Spiegel.
»Ich bin wirklich ein Vollidiot«, murmelte sie.
Und Jeanne, die sich in dem nur durch eine dünne Wand abgetrennten Badezimmer die Zähne putzte, lächelte.
Am frühen Nachmittag überquerte Keira den Quai Branly, um ihrer Schwester im Museum einen Besuch abzustatten. Ehe sie sich in deren Büro begab, beschloss sie, sich die ständige Ausstellung anzusehen. Als sie eine Maske bewunderte und deren Herkunft zu erraten versuchte, flüsterte ihr jemand zu:
»Eine malische Arbeit. Sie kommt aus Mali, ist nicht besonders alt, aber sehr schön.«
Keira fuhr herum und erkannte Ivory, dem sie am Vortag begegnet war.
»Ich fürchte, Ihre Schwester ist noch immer in ihrer Sitzung. Ich habe vor ein paar Minuten versucht, sie zu erreichen, aber man hat mir mitgeteilt, sie sei noch eine gute Stunde beschäftigt.«
»›Man‹ hat Ihnen mitgeteilt?«
»Ein Museum ist ein Mikrokosmos mit eigener Hierarchie zwischen den einzelnen Abteilungen, Unterabteilungen und Zuständigkeitsbereichen.
Der Mensch ist ein sonderbares Tier, er strebt danach, in einer Gesellschaft zu leben, und kann nicht umhin, sie aufzugliedern. Vermutlich ein Überbleibsel des Herdentriebs. Der Drang, gemeinsame Räume zu schaffen, um unsere Ängste zu vergessen. Aber ich langweile Sie sicher mit meinem Gerede. Das alles wissen Sie bestimmt viel besser als ich.«
»Sie sind ein eigenartiger Mann«, antwortete Keira.
»Wahrscheinlich«, meinte Ivory lachend. »Und wenn wir über all das bei einer Erfrischung im Garten diskutieren würden? Das Wetter ist schön, das müssen wir nutzen.«
»Über was sollten wir reden?«
»Nun, zum Beispiel darüber, was ›ein eigenartiger Mann‹ ist? Ich wollte Ihnen einige Fragen dazu stellen.«
Ivory führte Keira zu dem Café im Innenhof des Museums. Um diese Zeit am Nachmittag waren fast alle Tische frei. Keira wählte den, der von dem monumentalen Moai-Kopf am weitesten entfernt war.
»Haben Sie etwas Bedeutsames am Omo-Ufer gefunden?«, fragte Ivory.
»Ich habe einen zehnjährigen Jungen gefunden, der seine Eltern verloren hat. In archäologischer Hinsicht ist das eher dürftig.«
»Aber in menschlicher Hinsicht war das für das Kind wichtiger als ein paar in der Erde vergrabene Knochen. Ich habe gehört, dass katastrophale Wetterverhältnisse Ihre Arbeit ruiniert und Sie von Ihrer Ausgrabungsstätte vertrieben haben.«
»Ein Sandsturm, der heftig genug war, um mich bis hierher zu vertreiben.«
»Sehr ungewöhnlich für diese Gegend. Normalerweise wendet sich der Shamal nie nach Westen.«
»Woher wissen Sie das alles? Ich nehme an, es hat keine Schlagzeilen in der hiesigen Presse gemacht.«
»Nein, zugegebenermaßen nicht. Ihre Schwester hat mir von Ihrem Pech erzählt. Und da ich von Natur aus neugierig bin, manchmal vielleicht ein bisschen zu sehr, habe ich im Internet recherchiert.«
»Was könnte ich Ihnen sonst noch erzählen, um Ihre Neugier zu befriedigen?«
»Was haben Sie wirklich im Tal des Omo gesucht?«
» Monsieur Ivory, wenn ich Ihnen das sagen würde, hätte ich rein statistisch gesehen größere Chancen, dass Sie sich über mich lustig machen, als dass Sie sich für meine Arbeit interessieren.«
» Mademoiselle Keira, wenn Statistiken mein Leben bestimmt hätten, wäre ich Mathematiker und nicht Anthropologe geworden. Also versuchen Sie ruhig Ihr Glück.«
Keira musterte ihr Gegenüber. Der
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