Am ersten Tag - Roman
damit sagen, dass ich ermüdend bin?«
»Ermüdend, genau das ist es. Ihre außergewöhnlichen Sterne sind nichts als Kombinationen von Zahlen und Buchstaben, die sich kein Mensch merken kann. Was soll die Jury mit X321 und ZL254 anfangen, wir sind hier nicht in einer Folge von Star Trek ,
mein Lieber! Und was Ihre entfernten Galaxien angeht, so berechnen Sie die Distanz in Lichtjahren! Aber ich frage Sie: Wer ist in der Lage, in Lichtjahren zu zählen? Ihre reizende Nachbarin? Ihr Zahnarzt? Ihre Frau Mutter vielleicht? Das ist doch lächerlich. Niemand hält eine solche Überfütterung an Zahlen aus.«
»Verdammt noch mal, was soll ich denn machen? Soll ich meine Konstellationen vielleicht Tomate, Lauch oder Kartoffel nennen, damit auch Ihre Mutter meine Arbeit versteht?«
»Sie werden es nicht glauben, aber sie hat sie gelesen.«
»Ihre Mutter hat meine Diplomarbeit gelesen?«
»Natürlich!«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Sie leidet unter chronischer Schlaflosigkeit, gegen die kein Medikament hilft. Da hatte ich die Idee, ihr ein Exemplar Ihrer Arbeit zu bringen. Sie sollten übrigens weiterschreiben, sie hat sie fast durch.«
»Aber was zum Teufel erwarten Sie von mir?«
»Dass Sie in klaren Worten, die auch ein normaler Mensch verstehen kann, von Ihren Forschungen erzählen. Diese Manie, wissenschaftliche Termini zu verwenden, ist nervtötend. Sehen Sie sich nur die Medizin an, warum ein solches Kauderwelsch? Reicht es denn nicht, einfach krank zu sein? Nein, man muss sich anhören, dass man eine Hüftdysplasie hat, nur weil das Wort Missbildung zu banal klingt.«
»Tut mir leid zu hören, dass Sie Probleme mit den Knochen haben, mein lieber Walter.«
»Das braucht es nicht, ich habe nicht von mir gesprochen. Mein Hund leidet unter einer ›Dysplasie‹.«
»Sie haben einen Hund?«
»Ja, einen hübschen Jack Russell Terrier. Er ist bei meiner Mutter, und wenn sie ihm die letzten Seiten Ihrer Diplomarbeit
vorgelesen hat, schlafen sie jetzt vermutlich beide tief und fest.«
Am liebsten hätte ich Walter erwürgt, doch ich begnügte mich mit einem finsteren Blick. Seine Geduld verwirrte mich ebenso wie seine Hartnäckigkeit. Ohne dass ich wirklich wüsste, warum, löste sich plötzlich meine Zunge, und zum ersten Mal seit meiner Kindheit hörte ich mich laut fragen:
»Wo beginnt die Morgendämmerung?«
Als es Tag wurde, schlief Walter immer noch nicht.
Paris
Keira konnte keinen Schlaf finden. Aus Angst, ihre Schwester zu wecken, war sie leise aufgestanden und hatte sich auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt. Wie oft hatte sie ihr hartes Feldbett verflucht? Und wie sehr fehlte es ihr jetzt! Sie erhob sich und trat ans Fenster. Hier gab es keinen Sternenhimmel, nur eine Reihe Laternen, die die verlassene Straße erhellten. Es war fünf Uhr morgens, doch in fünftausendachthundert Kilometer Entfernung, im Omo-Tal, war es bereits hell, und Keira versuchte sich vorzustellen, was Harry wohl tun mochte. Sie kehrte zu ihrem Sofa zurück und hing ihren Gedanken nach, bis sie schließlich einschlief.
Am Vormittag riss sie ein Anruf von Professor Ivory aus ihren Träumen.
»Ich habe zwei Neuigkeiten für Sie.«
»Fangen Sie mit der schlechten an«, sagte Keira und räkelte sich.
»Sie hatten recht, selbst mit dem Diamanten, auf den ich so stolz bin, ist es mir nicht gelungen, das geringste Fragment von Ihrem Anhänger abzuschaben.«
»Habe ich doch gesagt. Und die gute?«
»Ein Labor in Deutschland kann unseren Auftrag innerhalb einer Woche bearbeiten.«
»Ist das teuer?«
»Machen Sie sich im Moment darüber keine Sorgen, das ist mein kleiner Beitrag.«
»Kommt gar nicht in Frage, Ivory, dafür gibt es nicht den geringsten Grund.«
»Mein Gott«, seufzte der Professor, »warum muss es für alles einen Grund geben? Reicht die Freude der Entdeckung nicht aus? Sie wollen einen Grund? Also bitte sehr: Ihr mysteriöses Schmuckstück hat mich fast die ganze Nacht lang wach gehalten. Und Sie können es mir glauben, dass das für einen alten Mann, der den lieben langen Tag vor Langweile gähnt, durchaus die bescheidene Summe rechtfertigt, die das Labor verlangt.«
»Halbe-halbe oder gar nicht!«
»Na gut, halbe-halbe. Sie sind also damit einverstanden, dass ich Ihren wertvollen Anhänger hinschicke? Sie werden sich für einige Zeit von ihm trennen müssen.«
Daran hatte Keira gar nicht gedacht, und die Vorstellung, ihn nicht mehr zu tragen, war ihr unangenehm. Aber der Professor schien so begeistert und
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