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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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mal witzig sind«, knurrte der Teamchef. »Und überhaupt, was sind ›Schmocks‹?«
    »Das sind Leute wie ich, die schuften, ohne die Stunden zu
zählen, um etwas auf die Beine zu stellen, das am Ende niemanden interessiert, und die schließlich hilflos mit ansehen müssen, wie ihr Werk innerhalb weniger Sekunden zerstört wird.«
    »Na ja, besser zwei lebende als zwei tote Schmocks.«
    »So kann man es auch sehen!«
    Das Tosen dauerte noch endlose Minuten an. Und obwohl sich von Zeit zu Zeit Erdschollen lösten, schien ihr Schutzbunker standzuhalten. Das Tageslicht drang erneut in die Höhle, der Sturm entfernte sich. Der Teamchef erhob sich und streckte Keira die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, doch sie ergriff sie nicht.
    »Würden Sie beim Hinausgehen die Tür schließen«, sagte sie. »Ich bleibe hier, ich bin nicht sicher, dass ich sehen will, was uns draußen erwartet.«
    Der Teamchef blickte missmutig drein.
    »Harry!«, rief Keira unvermittelt und stürzte hinaus.
    Draußen war nichts als Verwüstung. Die Büsche, die das Flussufer säumten, waren geradezu geköpft worden; die Böschung, sonst ockergelb, hatte die braune Farbe der Erde, die sie jetzt bedeckte, angenommen. Der Strom trug Unmengen von Schlamm kilometerweit ins Delta. Kein einziges Zelt im ganzen Lager stand noch an seinem Platz. Auch das Dorf hatte den Angriffen des Sturms nicht standhalten können. Die über Meter vom Wind durch die Luft getriebenen Hütten waren schließlich an Felsen oder Baumstämmen zerschellt. Hoch oben auf dem Hügel verließen die Dorfbewohner ihren Unterschlupf, um in Augenschein zu nehmen, was aus ihrem Vieh und ihren Äckern geworden war. Eine Frau weinte und presste ihre Kinder an sich. Etwas weiter entfernt sammelten sich die Mitglieder eines anderen Stammes. Keine Spur von Harry. Keira sah sich suchend um - drei Leichen lagen am Ufer. Ihr wurde fast übel.

    »Er wird sich in einer der Grotten versteckt haben, keine Sorge, wir finden ihn schon«, sagte der Teamchef und zwang sie, den Blick abzuwenden.
    Keira klammerte sich an seinen Arm, und sie erklommen gemeinsam den Hang. Auf dem Plateau, wo sich die Ausgrabungsstätte befand, waren die Planquadrate völlig verschwunden, der Boden war mit Trümmern übersät, der Sturm hatte alles zerstört. Keira bückte sich, um einen Höhenmesser aufzuheben. Automatisch wischte sie den Staub ab, doch die Gläser des Gerätes waren unwiederbringlich beschädigt. Etwas weiter entfernt lag das Stativ eines Theodoliten , der Dreifuß himmelwärts gerichtet. Plötzlich tauchte mitten in dieser Verwüstung das verstörte Gesicht von Harry auf.
    Keira lief ihm entgegen und nahm ihn in die Arme. Das war alles andere als gewöhnlich. Auch wenn sie ihre Zuneigung denen gegenüber, die ihr Herz erobert hatten, in Worten auszudrücken wusste, gab sie sich sonst nie der geringsten Geste der Zärtlichkeit hin. Diesmal jedoch drückte sie ihn so fest, dass er fast versucht war, sich aus der Umarmung zu befreien.
    »Mein Gott, hast du mir Angst gemacht«, sagte sie und wischte ihm den Schmutz aus dem Gesicht.
    » Ich habe dir Angst gemacht? Nach allem, was passiert ist, soll ich dir Angst gemacht haben?«, wiederholte Harry fassungslos.
    Keira antwortete nicht. Sie hob den Kopf und betrachtete, was von ihrer Arbeit geblieben war: nichts. Selbst die kleine Mauer aus getrockneten Lehmsteinen, auf der sie heute Morgen noch gesessen hatte, war zusammengebrochen, weggefegt vom Shamal. Innerhalb weniger Minuten hatte sie alles verloren.
    »O weh, deinen Laden hat es ganz schön erwischt«, sagte Harry.

    »… meinen Porzellanladen«, murmelte Keira.
    Harry schob seine Hand in die von Keira. Er war darauf gefasst, dass sie ihre zurückziehen würde; dass sie einen Schritt zur Seite weichen und vorgeben würde, etwas Wichtiges entdeckt zu haben, so wichtig, dass sie sofort überprüfen müsste, worum es sich handelte. Und dann, etwas später, würde sie ihm durchs Haar streichen, um sich für den Mangel an Zärtlichkeit zu entschuldigen. Diesmal aber hielt Keira die ihr arglos gereichte Hand fest, und ihre Finger umschlossen sie.
    »Alles ruiniert«, sagte sie mit tonloser Stimme.
    »Du kannst neu graben, oder?«
    »Das ist nicht mehr möglich.«
    »Du musst nur tiefer gehen«, protestierte der Junge.
    »Selbst tiefer wäre alles unbrauchbar.«
    »Was wird dann geschehen?«
    Keira ließ sich im Schneidersitz auf dem verwüsteten Boden nieder. Harry folgte ihrem Beispiel und respektierte ihr

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