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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Horizont zu nähern, wich dieser zurück, und je mehr er sich vorwagte, desto mehr offenbarte sich ihm die Weite der Welt.
    Nun müssten wir das Universum erforschen und über die
uns bereits bekannten Galaxien hinaus die Vielzahl an Informationen, die uns aus dem Weltraum und weit zurückliegenden Zeiten erreichten, zu deuten versuchen . In wenigen Monaten würden die Amerikaner das stärkste jemals konzipierte Weltraumteleskop ins All schicken. Vielleicht würde es uns ermöglichen, in Erfahrung zu bringen, wie unser Universum entstanden war und ob es auf Planeten, die dem unseren ähnlich waren, Leben gibt. Auf dieses Abenteuer müsste man sich einlassen.
    An diesem Zeitpunkt meines Vortrags wurde mir plötzlich klar, dass Walter vielleicht recht hatte - eine junge Frau in der vierten Reihe fixierte mich auf sonderbare Weise. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Wenigstens eine Person im Saal schien gefesselt von meinem Vortrag. Doch im Moment war Verführung nicht angesagt, und so beendete ich nach kurzem Zögern mein Exposee:
    Das Licht des ersten Tages komme aus den Tiefen des Universums auf uns zu. Wären wir in der Lage, es aufzufangen und zu deuten, so würden wir endlich verstehen, wie alles begann.
     
    Totenstille. Niemand rührte sich. Ich fühlte mich wie ein Schneemann, der langsam in der Sonne schmilzt, bis zu jenem Moment, da Walter in die Hände klatschte. Als ich meine Unterlagen zusammensammelte, erhob sich die Jurypräsidentin und applaudierte ebenfalls, ihre Kollegen folgten ihrem Beispiel, dann der ganze Saal. Ich bedankte mich und verließ das Podium. Walter umarmte mich zur Begrüßung.
    »Sie waren …«
    »Erbärmlich oder grauenvoll? Ich lasse Ihnen die Wahl. Aber ich habe Sie gewarnt, dass wir nicht die geringste Chance hätten …«
    »Nun seien Sie doch mal still! Würden Sie mich nicht unterbrechen,
könnte ich Ihnen sagen, dass Sie umwerfend waren. Im Publikum war kein Laut, nicht einmal ein Hüsteln zu hören.«
    »Normal, nach fünf Minuten sind sie alle eingeschlafen!«
    Als ich mich wieder setzte, sah ich, wie die junge Frau aus der vierten Reihe zum Podium ging. Darum hatte sie mich so angesehen. Wir waren Konkurrenten, und sie wollte aus meinen Fehlern lernen.
    Das Mikrofon funktionierte immer noch nicht, doch ihre klare Stimme drang durch den ganzen Raum. Sie hob den Kopf, den Blick in die Ferne gerichtet, wie auf ein entlegenes Land. Sie sprach von Afrika, von der roten Erde, in der sie gegraben hatte. Sie erklärte, der Mensch werde nie frei sein, dorthin zu gelangen, wohin er wolle, solange er nicht wisse, woher er komme. Ihr Projekt war in gewisser Weise das ehrgeizigste von allen. Es ging weder um Wissenschaft noch um moderne Technologie, sondern darum, einen Traum zu erfüllen - den ihren.
    »Wer sind unsere Vorväter?« waren ihre ersten Worte. Und wenn man bedenkt, dass ich nur davon träumte, herauszufinden, wo die Morgendämmerung begann!
    Sie fesselte das Publikum, sobald sie mit ihrem Exposee begann, wobei Exposee eigentlich nicht das richtige Wort ist, denn sie erzählte eher eine Geschichte. Walter war ebenso gebannt wie die Jury und alle im Saal Anwesenden. Sie sprach vom Omo-Tal, und ich wäre niemals in der Lage gewesen, die Berge der Atacama-Wüste so treffend zu beschreiben wie sie die Ufer dieses äthiopischen Flusses. Bisweilen glaubte ich, das Plätschern des Wassers sowie das Rauschen des Windes, der den Staub vor sich hertrieb, zu hören und die brennende Sonne zu spüren. Fast überkam mich der Wunsch, meine Arbeit aufzugeben und mich der ihren anzuschließen, zu ihrem Team zu gehören und in der sengenden Sonne an ihrer Seite zu
graben. Sie zog einen seltsamen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche und hielt ihn dem Publikum hin.
    »Das ist das Fragment eines Schädels. Ich habe es fünfzehn Meter unter der Erde in einer Grotte gefunden. Es ist fünfzehn Millionen Jahre alt - ein winziger Bruchteil der Menschheit. Und wenn ich die Möglichkeit hätte, tiefer und länger zu graben, könnte ich vielleicht zurückkehren und Ihnen endlich enthüllen, wer der erste Mensch war.«
    Der Saal brauchte keine Ermutigung von Walter, um die junge Frau, nachdem sie ihren Vortrag beendet hatte, reichlich mit Beifall zu bedenken. Es blieben noch zehn weitere Kandidaten, und ich hätte keiner von denen sein mögen, die nach ihr antreten mussten.
     
    Um halb zehn zog sich die Jury zur Beratung zurück. Der Saal leerte sich, und Walters Schweigen verunsicherte mich.

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