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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Spiel? Wie können sie es wagen?«, brüllte er.
    »Ich glaube, sie wollte uns nur ermutigen, unser Glück noch einmal zu versuchen.«
    »In einem Jahr? Na wunderbar! Adrian, entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach so im Stich lasse, aber ich fahre nach Hause, ich bin heute Abend ungenießbar. Wir sehen uns morgen in der Akademie - sofern ich bis dahin wieder nüchtern bin.«
    Walter wandte sich ab und eilte davon. Ich stand ganz alleine mitten im Saal, und mir blieb keine andere Wahl, als den Raum ebenfalls zu verlassen. Am Ende des Ganges hörte ich das Klingeln des Aufzugs und beschleunigte den Schritt, um ihn zu erreichen, ehe sich die Türen schlossen. In der Kabine bedachte mich die Preisträgerin mit einem strahlenden Blick.
    Sie hatte ihr Dossier unter den Arm geklemmt. Ich war darauf gefasst, in ihren Zügen den Triumph des Siegers zu lesen, doch sie begnügte sich mit einem verschmitzten Lächeln. Im Geist hörte ich Walters Stimme, die mich, egal was ich tat, zurechtweisen würde: »Wie können Sie sich so ungeschickt anstellen!«
    Und so murmelte ich nur kleinlaut: »Ich gratuliere.«
    Die junge Frau antwortete zunächst nicht.
    »Habe ich mich so sehr verändert?«, fragte sie schließlich.
    Und da ich keine geeignete Antwort darauf fand, riss sie ein Blatt aus ihren Unterlagen, schob es in den Mund und begann, es in aller Ruhe zu kauen, ohne dabei ihr kleines spöttisches Lächeln abzulegen. Plötzlich tauchten vor meinem geistigen Auge Bilder von einem Prüfungsraum auf und tausend
weitere von einem unglaublichen Sommer vor fünfzehn Jahren. Die junge Frau spie die Papierkugel in ihre Hand und seufzte.
    »Na, erkennst du mich endlich?«
    Die Türen des Aufzugs öffneten sich auf die Eingangshalle. Ich stand reglos mit hängenden Armen da, und so fuhr er wieder hinauf in das oberste Stockwerk.
    »Du hast ganz schön lange gebraucht … Ich hätte gehofft, einen nachhaltigeren Eindruck bei dir hinterlassen zu haben. Bin ich wirklich so alt geworden?«
    »Nein, natürlich nicht, aber deine Haarfarbe …«
    »Mit zwanzig habe ich sie oft gewechselt, aber das ist jetzt vorbei. Du hast dich gar nicht verändert, vielleicht ein paar Falten, aber dein Blick ist noch genauso abwesend.«
    »Es kommt so unerwartet, dich hier zu treffen … nach all den Jahren.«
    »Stimmt, eher ungewöhnlich in einem Aufzug. Sollen wir noch einmal rauf- und runterfahren, oder lädst du mich zum Essen ein?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Keira ihre Mappe fallen und warf sich in meine Arme. Der Kuss schmeckte nach gekautem Papier, ja genau das, ein echter Kuss aus Papier, auf das ich damals gerne meine Gefühle für sie geschrieben hätte. Manchmal kann der erste Kuss das ganze Leben ins Wanken bringen, auch wenn man es sich nicht eingestehen will. Ein solcher erster Kuss trifft einen unvorbereitet. Manchmal geschieht es auch beim zweiten Kuss, selbst wenn er fünfzehn Jahre nach dem ersten stattfindet.
     
    Jedes Mal, wenn sich die Türen auf die Halle öffneten, drückte einer von uns beiden auf den Knopf und umschlang den anderen noch fester. Nach der sechsten Reise erwartete uns der Nachtportier mit verschränkten Armen. Sein Aufzug sei kein
Hotelzimmer, sonst gäbe es keine Kamera im Innern, und so wurden wir höflich gebeten, die Örtlichkeiten zu verlassen. Ich zog Keira mit, und wir standen, einer so verwirrt wie der andere, auf dem verlassenen Vorplatz.
    »Entschuldige, ich habe nicht nachgedacht, das war die Trunkenheit des Sieges …«
    »Und bei mir die des Verlierens«, antwortete ich.
    »Tut mir leid, Adrian, ich bin so ungeschickt.«
    »Nun, wenn Walter hier wäre, würde er eine Gemeinsamkeit feststellen. Versuchst du es bitte noch einmal?«
    »Was?«
    »Meine Ungeschicktheit, dein Sieg, meine Niederlage, ganz wie du willst.«
    Keiras Mund streifte meine Lippen, dann schlug sie vor, diesen ungastlichen Ort zu verlassen.
    »Komm, lass uns ein paar Schritte laufen, auf der anderen Seite der Themse gibt es einen wunderbaren Park …«
    »Gibt es auch Rinder in deinem Park?«
    »Ich glaube nicht, warum?«
    »Weil ich solchen Hunger habe, dass ich ein ganzes vertilgen könnte. Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Bring mich in ein Pub, in dem die Küche um diese Zeit noch geöffnet ist.«
    Ich erinnerte mich an ein Restaurant, das wir damals oft besucht hatten. Zwar wusste ich nicht, ob es noch existierte, doch ich gab dem Taxifahrer die Adresse. Als wir an der Themse entlangfuhren, ergriff Keira meine

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