Am ersten Tag - Roman
an den Bahnsteigen warteten nur wenige Züge. Die Reisenden, die nach England wollten, nahmen die Rolltreppe zur Grenzabfertigung. Keira durchlief den Zoll und die Sicherheitskontrolle. Kaum saß sie im großen Wartesaal, da öffneten sich schon die Einstiegstüren.
Sie schlief fast die ganze Fahrt über. Als sie aufwachte, verkündete eine Stimme über Lautsprecher die Ankunft in Saint-Pancras. Ein schwarzes Taxi fuhr sie durch London bis zu ihrem Hotel. Von der Stadt begeistert drückte diesmal sie die Nase an die Scheibe.
Ihr Zimmer war, wie Jeanne es beschrieben hatte, klein, aber ganz entzückend. Sie legte ihren Koffer aufs Fußende des Bettes, stellte ihre Uhr nach dem Wecker auf dem Nachtkästchen und fand, dass ihr noch genügend Zeit für einen Spaziergang durch das Viertel blieb. Sie lief die Old Brompton Road entlang und bog in die Bute Street, wo sie der verlockenden Auslage einer kleinen französischen Buchhandlung nicht
widerstehen konnte. Sie trat ein, stöberte lange herum und kaufte schließlich ein Buch über Äthiopien, das sie in einem der Regale entdeckt hatte. Dann überquerte sie die Straße und nahm auf der Terrasse eines kleinen italienischen Cafés Platz. Nachdem sie sich mit einem köstlichen Espresso gestärkt hatte, beschloss sie, in ihr Zimmer zurückzukehren. Die mündliche Prüfung begann um Punkt achtzehn Uhr, und der Taxifahrer, der sie vom Bahnhof zum Hotel gebracht hatte, hatte ihr erklärt, sie müsse eine gute Stunde bis zu den Doglands rechnen.
Sie erreichte das Haus Nummer 1 am Cabot Square eine halbe Stunde zu früh. Mehrere Personen betraten bereits die Eingangshalle des Hochhauses. Ihre elegante Kleidung ließ vermuten, dass alle dasselbe Ziel hatten. Keiras bisherige Unbekümmertheit verwandelte sich augenblicklich in Stress, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Zwei Männer in dunklen Anzügen näherten sich auf dem Vorplatz. Keira runzelte die Stirn, einer von beiden kam ihr bekannt vor. Sie wurde vom Klingeln ihres Handys abgelenkt, suchte es in ihren Taschen und erkannte Jeannes Nummer auf dem Display.
»Ich schwöre dir, dass ich dich gerade anrufen wollte. Ich war schon dabei, deine Nummer zu wählen!«
»Lügnerin!«
»Ich stehe vor dem Gebäude und kann dir sagen, dass mein einziger Wunsch ist, von hier zu verschwinden. Prüfungen waren nie mein Ding.«
»Nach all der Zeit, die wir darin investiert haben, wirst du dieses Abenteuer jetzt bis zum Ende durchstehen. Ich weiß, du wirst dich großartig schlagen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du den Preis nicht gewinnst. Davon geht die Welt auch nicht unter.«
»Du hast recht, aber ich habe solches Lampenfieber, Jeanne, das hatte ich nicht mehr, seit…«
»Gib dir keine Mühe, du hattest in deinem ganzen Leben noch nie Lampenfieber!«
»Deine Stimme klingt so komisch.«
»Ich sollte es dir vielleicht nicht gerade jetzt sagen, aber … bei mir ist eingebrochen worden.«
»Wann?«, rief Keira bestürzt.
»Heute Morgen, während ich dich zum Bahnhof begleitet habe. Keine Sorge, sie haben nichts gestohlen. Zumindest glaube ich es nicht, doch die ganze Wohnung ist durchwühlt und Madame Hereira völlig aufgelöst.«
»Du darfst heute Abend nicht alleine dort bleiben. Komm her, spring in den nächsten Zug!«
»Nein, ich warte auf den Schlosser, und wenn sie nichts gestohlen haben, warum sollten sie dann das Risiko eingehen zurückzukehren?«
»Vielleicht wurden sie gestört?«
»Du kannst es mir glauben, so wie Wohn- und Schlafzimmer aussehen, haben sie sich genug Zeit gelassen. Die Nacht wird nicht ausreichen, um alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Jeanne, es tut mir leid«, sagte Keira und sah auf ihre Uhr. »Ich muss jetzt wirklich gehen, ich rufe dich an, sobald…«
»Leg sofort auf und lauf, sonst kommst du noch zu spät. Hast du aufgelegt?«
»Nein!«
»Worauf wartest du, lauf, habe ich gesagt!«
Keira schaltete das Handy aus und betrat die Halle. Die Walsh-Foundation tagte im obersten Stock. Als sie in den Lift stieg, war es genau achtzehn Uhr. Die Aufzugtüren öffneten sich wieder, und eine Hostess führte Keira über einen langen
Gang. Der Konferenzraum war schon recht voll und viel größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
Rund hundert Stühle bildeten einen Halbkreis um ein Podium. In der ersten Reihe saßen die Jurymitglieder vor ihren Tischen und lauschten aufmerksam den Ausführungen des Redners. Keiras Herz klopfte zum Zerspringen, sie entdeckte den letzten
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