Am ersten Tag - Roman
Hand. Schon seit Langem hatte ich keine Zärtlichkeit mehr gespürt. In diesem Augenblick vergaß ich meine Niederlage und die Kluft, die sich an diesem Abend zwischen London, wo ich lebte, und dem Atacama-Plateau, auf dem meine Träume zurückgeblieben waren, unweigerlich auftat.
Amsterdam
Der Mann, der aus der Trambahn stieg und die Straße an der Singelgracht entlanglief, wirkte wie ein gewöhnlicher Büroangestellter auf dem Heimweg. Mit dem kleinen Unterschied, dass es schon äußerst spät war, dass seine Umhängetasche mit einer Kette am Handgelenk befestigt war und unter seinem Jackett eine Pistole im Halfter steckte. Am Magna-Plaza-Kaufhaus angelangt blieb er an der Ampel stehen und vergewisserte sich, dass niemand ihm folgte. Als diese auf Rot wechselte, trat er auf die Fahrbahn. Er ignorierte das wütende Hupen, schlängelte sich zwischen einem Lieferwagen und einem Bus hindurch, zwang zwei Limousinen zu einer Vollbremsung und konnte eben noch einem Motorradfahrer ausweichen, der ihn mit einem Schwall von Flüchen bedachte. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig beschleunigte er den Schritt, bis er den Dam-Platz erreicht hatte, den er eilig überquerte, und trat durch die Seitentür in die Neue Kirche - ein seltsamer Name übrigens für dieses majestätische Gotteshaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Der Mann hatte keine Zeit, das prunkvolle Schiff zu bewundern, sondern setzte sogleich seinen Weg bis zum Transept fort, vorbei am Grab von Admiral de Ruyter, bog vor dem des Seefahrers Jan van Galen ab und steuerte auf die Apsis zu. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete damit eine kleine Tür am Ende der Kapelle und stieg die Geheimtreppe dahinter hinab.
Nach etwa fünfzig Stufen erreichte er einen langen Korridor,
der sich vor ihm erstreckte. Über diesen konnten Eingeweihte unbemerkt unter dem Dam, dem Hauptplatz Amsterdams, zum Königspalast gelangen. Der Mann beeilte sich, bekam er doch jedes Mal in diesem engen Gang, in dem noch dazu seine eigenen Schritte widerhallten, regelrechte Beklemmungen. Je weiter er vordrang, desto dunkler wurde es, da nur die äußersten Enden des Tunnels von dürftigen Lichtquellen erhellt waren. Der Mann spürte, wie sich die Sohlen seiner Mokassins mit Brackwasser, das kleine Pfützen am Boden bildete, vollsogen. Auf halber Strecke herrschte absolutes Dunkel. Er wusste, dass er von hier aus nur noch fünfzig Schritte geradeaus tun musste - die Vertiefung des Rinnsteins diente als Wegweiser in der Finsternis.
Schließlich erreichte er das Ende des Korridors, und eine weitere Treppe tat sich vor ihm auf. Die Stufen waren rutschig, und er musste sich an dem Hanfseil festhalten, das an der Wand befestigt war. Oben angelangt befand sich der Mann vor einer ersten Holztür, die mit schweren gusseisernen Riegeln und zwei übereinanderliegenden runden Griffen versehen war. Um das Schloss zu öffnen, musste man einen dreihundert Jahre alten Mechanismus zu betätigen wissen. Der Mann drehte den oberen Griff um neunzig Grad nach rechts und den unteren um neunzig Grad nach links und zog dann beide zu sich hin. Ein Klicken war zu vernehmen, die Verriegelung war gelöst. Er trat in ein Vorzimmer im Erdgeschoss des Königspalastes. Das Gebäude, ein Meisterwerk des Architekten Jacob van Campen, wurde Mitte des siebzehnten Jahrhunderts errichtet und diente ursprünglich als Rathaus. Die Amsterdamer bezeichnen es als achtes Weltwunder. Eine Statue des Atlas beherrscht den großen Bürgersaal des Palastes, auf dem Marmorfußboden sind drei gewaltige Karten dargestellt, eine zeigt das Morgenland, die andere das Abendland und die dritte den Sternenhimmel.
Jan Vackeers würde bald seinen sechsundsiebzigsten Geburtstag feiern, wirkte aber mindestens zehn Jahre jünger. Er öffnete die Tür zum Bürgersaal, lief über die Milchstraße, dann über Ozeanien, überquerte mit einem einzigen Schritt den Atlantik und setzte seinen Weg zum Vorzimmer fort, wo sein Gast ihn erwartete.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte er, kaum dass er eingetreten war.
»Ja, erstaunliche. Unsere Französin ist im Besitz der doppelten Staatsbürgerschaft. Ihr Vater war Engländer, ein Botaniker, der einen Großteil seines Lebens in Frankreich verbracht hat. Kurz nach der Scheidung kehrte er in seine Heimat in Cornwall zurück, wo er 1997 einem Herzleiden zum Opfer fiel. Sterbeurkunde und Totenschein sind der Akte beigefügt.«
»Und die Mutter?«
»Auch sie ist verstorben. Sie lehrte Humanwissenschaften
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