Am Fluss des Schicksals Roman
Ich hole erst einmal Dr. Carmichael. Sobald er dich verarztet hat und grünes Licht gibt, bringe ich dich auf die Marylou .«
Maggie erhob keinen Einspruch. Auch wenn sie Neal sehr gern mochte, hatte sie schreckliche Angst, dass seine Peiniger herausfanden, dass sie und die anderen Mädchen ihm Zuflucht gewährt hatten, und sich an ihnen rächten. Allein Gwendolyn zuliebe – und weil Neal sie alle stets anständig behandelte – waren sie dieses Risiko eingegangen. Deshalb war es ihr recht, wenn Neal das Haus rasch verließ, sodass sie die Geschäfte wieder aufnehmen konnten.
Eine halbe Stunde später wurde Neal von Dr. Carmichael gründlich untersucht. Er hatte zwar keine Platzwunden, die genäht werden mussten, aber sein gebrochener Arm musste geschient werden, und der Arzt prüfte zudem seine Sehkraft und befragte ihn zu seinen Kopfschmerzen. Gegen die Prellungen und die gebrochenen Rippen konnte er nichts tun. Sie würden von alleine verheilen.
»Es ist möglich, dass er eine Schädelfraktur erlitten hat. Darum sollte er sich die nächsten paar Wochen schonen«, sagte der Arzt zu Joe. »Wenn die Kopfschmerzen nicht nachlassen, muss ich ihn vielleicht nach Melbourne überweisen.«
Neals linker Arm war direkt unter dem Ellbogen gebrochen. Anhand der Verletzung folgerte der Arzt, dass er offenbar versucht hatte, den Schlag eines Holzknüppels abzuwehren, wobei der Knochen zersplittert war. Auch am Kopf warer getroffen worden, sowie am Oberkörper. Allein der Umstand, dass er sehr muskulös war, hatte ihn vor weiteren Knochenbrüchen bewahrt.
»Du kannst von Glück sagen, dass du noch lebst, Neal«, sagte der Doktor. »Offenbar hält dein Kopf einiges aus.«
»Kein Wunder«, bemerkte Joe. »Ich hab immer schon gesagt, dass er einen Dickschädel hat.«
»Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen«, entgegnete Neal. Er lachte auf, stöhnte aber gleich darauf vor Schmerz.
»Können wir ihn zur Marylou transportieren, Doktor?«, fragte Joe den Arzt.
»Bringt mich lieber auf die Ophelia «, sagte Neal.
Joe überhörte seinen Einwand geflissentlich. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, Neal zu sagen, was mit seinem Schiff geschehen war.
»In diesem Zustand kann er nicht laufen«, erwiderte Dr. Carmichael, der allerdings Verständnis dafür hatte, dass Joe Neal nicht im Bordell lassen wollte. »Aber ich habe eine Tragbahre.«
Nachdem er Neal eine Spritze verabreicht hatte, um die Schmerzen zu lindern, wurde der Verletzte vorsichtig auf die Trage gehoben; dann trugen Joe und Dr. Carmichael ihn im Schutze der Dunkelheit zur Marylou. Maggie versprach Lizzie, Gwendolyn, die noch schlief, Bescheid zu geben, dass Neal weggebracht worden war, um seine Verletzungen auszukurieren.
Wieder an Bord der Marylou bettete Joe Neal in seine Koje. Ned, der ohnehin nicht schlafen konnte, stand auf, als er hörte, wie Joe sich von Dr. Carmichael verabschiedete.
»Was ist los?«, fragte er verwirrt.
»Du wirst es nicht glauben, Ned, aber Lizzie hat Neal gefunden.«
Ned wurde blass. »Ist er ...?«
»Er ist in einem schlimmen Zustand, aber er lebt. Ich habe ihn soeben in meine Koje verfrachtet.«
»Dem Herrgott sei Dank!«, jubelte Ned. »Francesca wird außer sich sein vor Freude.«
»Als ich vorhin gegangen bin, hat sie geschlafen. Da sie seit gestern kein Auge mehr zugemacht hat, lassen wir sie am besten in Ruhe und sagen es ihr als Allererstes morgen Früh.«
»Ich kann es kaum erwarten, ihr Gesicht zu sehen. Aber was ist denn eigentlich mit Neal geschehen?«
»Sieht so aus, als hätte jemand versucht, ihn umzubringen«, antwortete Joe ernst.
»Zwei der Freudenmädchen haben ihn schwer verletzt in einer Gasse gefunden«, fügte Lizzie hinzu. »Sie haben ihn mit ins Bordell genommen und dort versteckt.«
»Dann war er gar nicht an Bord, als die Ophelia explodiert ist? Wer war es dann? Und wieso?«, fragte Ned entgeistert. Das ergab alles keinen Sinn für ihn.
»Neal glaubt, dass sein Schiff immer noch am Ufer liegt. Aber ich hab keine Ahnung, wer am Ruder war, als die Ophelia zerrissen wurde.« Joe verstummte mit einem Achselzucken.
Joe hatte sich zum Schlafen auf den Boden vor seine Koje gelegt, um bei Neal zu wachen, falls der ihn brauchte. Doch er fand wenig Schlaf, zumal Neal bei jeder noch so kleinen Bewegung vor Schmerz stöhnte. Als Joe in der Morgendämmerung aufstand, schlief Neal endlich tief und fest. Da Joe wusste, dass Neal Schlaf bitter nötig hatte, um wieder gesund zu werden,
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