Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
verleugnen, hatte er sich gehalten wie ein wackerer Marine. Jetzt war er auf sein eigenes Maß geschrumpft – und noch weiter. Er sah aus wie jemand, für den man beten möchte.
»Heute erscheint es noch auf keiner Titelseite, aber das wird nicht lange so bleiben. Sobald ein Reporter Jack Avery googelt, wird die Meute hier einfallen. Immerhin, eine gewisse Zeitspanne bleibt Ihnen – eine Woche, vielleicht auch nur ein paar Tage –, bis FBI und Börsenaufsicht hier anklopfen. Momentan sind die noch vollauf mit dieser anderen Geschichte beschäftigt, aber irgendwann kommen sie.«
Er stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Graue Wolken hingen tief über dem Hafen, die Verrazano Bridge war nur als verschwommene Linie auszumachen. Eine einsame Fähre pflügte sich durch schwarzes Wasser hinüber nach Staten Island.
»Jack Avery war einer, der was wegschafft, aber keine Führungspersönlichkeit. Er war auch gewalttätig, wie man sieht. Im Grunde ein Arbeitstier, kein Denker. Kein Kreativer. Sehen Sie das auch so?«
»Ja.« Ich meinte bereits zu wissen, worauf er hinauswollte, aber ich überließ es ihm, das Tempo vorzugeben.
»Er verfügte nicht über die Menschenkenntnis, die man braucht, um eine derart große Sache aufzuziehen.« Er lächelte traurig. »Wer war es also, Jason? Wissen Sie es? Sie müssen es wissen.«
Ich antwortete nicht. »Die Bundesbehörden wissen es noch nicht.« Das war die Wahrheit. »Aber sie werden es irgendwann herausfinden.«
Er nahm eins seiner Familienfotos zur Hand und betrachtete es aufmerksam. Einen Moment lang dachte ich, er würde anfangen zu weinen.
»Was empfehlen Sie mir? Wie soll ich das angehen? Irgendwelche Ideen?«
»Machen Sie’s öffentlich.« Ich reichte ihm eine handgeschriebene Liste. »Feuern Sie alle Händler, die hier draufstehen. Frieren Sie die firmeninternen Konten der Leute ein. Teilen Sie ihnen mit, dass Sie auch Anspruch auf ihren restlichen Besitz erheben. Erklären Sie vor der Presse, dass eine noch laufende internationale Untersuchung ein Problem ans Licht gebracht hat, das die gesamte Wall Street betrifft, und dass Weld den Behörden Informationen zur Verfügung gestellt hat, anhand derer alle identifiziert werden können, die in die Sache verwickelt sind. Die Börsenaufsicht wird wohl oder übel mitspielen. Die Presse wird begeistert sein.«
Sein Instinkt und seine grundlegenden Überlebenstechniken würden Stockman helfen, heil aus der Sache herauszukommen. Am Ende würde er als große Führungspersönlichkeitdastehen. Er wirkte jetzt schon, als sei er wieder ein bisschen gewachsen.
Und ich konnte meinen Ruf aufbessern – von dem eines Betrügers zu dem des Informanten.
»Sie werden noch ein paar Leute mehr opfern müssen. Der Mann aus dem Vertrieb, dieser Brite, Jones? Wenn er nicht mitbekommen hat, was da läuft, ist er ein Idiot. So oder so hat es sich für ihn erledigt.«
Stockman nickte. »Ich fürchte, der Sales Manager wird auch gehen müssen.«
»Genau«, erwiderte ich. »Die Börsenaufsicht wird ohnehin sehen wollen, dass Köpfe rollen, da treffen Sie die Auswahl am besten gleich selbst. Schnüren Sie den Leuten fette Abfindungspakete, damit sie nicht klagen, und sichern Sie ihnen anwaltliche Unterstützung zu für den Fall, dass die Börsenaufsicht ihnen noch zusetzt.«
Er zog seine kerzengerade hängende Krawatte noch gerader. »Die Kosten kann ich mit zu denen der Fusion schieben.«
Er dachte schon wieder wie ein Buchhalter. An ihm würde das alles abperlen.
»Ein, zwei Leute gibt es, mit denen würde ich gern reden, bevor Sie an die Öffentlichkeit gehen. Könnten Sie mir, sagen wir, eine Stunde Zeit lassen?«
Schon war er wieder obenauf. Generös gewährte er mir die Stunde.
Als ich sein Büro verließ, stand Gwendolyn, seine Sekretärin, bereits an der Tür und wartete darauf, zu ihm hineingehen zu können. Ein kleines Stück Treibgut tauchte aus dem Strom meiner Gedanken auf.
»Eine letzte Sache noch, Bill.« Ich drehte mich noch einmal um. »Avery hat gestern eine Sekretärin erwähnt. Aber ich war neulich bei ihm im Büro, und da sah es so aus, alssei er der einzige Jurist in der ganzen Abteilung, der keine Sekretärin hat.«
Gwen senkte den Blick. Stockman wirkte betreten.
»Ja«, sagte er schließlich. »Tragisch. Eine unglückliche Frau. Ist schon eine Weile her, dass das passiert ist. Sie ist vom Dach gesprungen, vom Dachgarten aus. Seitdem lassen wir dort niemanden mehr rauf.«
»Aus Pietät?«, fragte
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