Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
aber ich hatte auch nicht mit einer Antwort gerechnet.
Brians Zimmer war durchsucht worden – von jemandem, der sich keine Mühe gegeben hatte, das unauffällig zu tun. Schubladen waren herausgezogen und ausgekippt worden. Auf dem Boden des Kleiderschranks lag ein Riesenhaufen Kleidungsstücke, alle noch auf den Bügeln. Der Raum hatte eine angenehme Größe und etwas, was in solchen New Yorker Wohnblocks selten ist: ein Fenster, das nicht zu einem Lichtschacht hinausging, sondern in diesem Fall zur Straße und einem smoggebeutelten Ginkgo.
Ich wühlte mich vergeblich durch das Chaos; falls es da etwas gab, das mir mehr über Brian Sanders verraten hätte, fand ich es nicht. Er hatte Neal Stephenson, Robert Heinlein und Cormac McCarthy gelesen. Seine Anzüge hatte er – sehr vernünftig, wie ich fand – bei St. Laurie schneidern lassen. Die Hemden waren alle von Land’s End . Boxershorts, keine Slips. Er hatte Kondome mit Struktur bevorzugt. Was ich nicht fand, waren Briefe, Kontoauszüge, Depotübersichten, Terminkalender, Adress- oder Tagebücher. Wie die meisten jungen Leute in seinem Alter hatte er solche Dinge auf seinem Rechner gehabt – und der war weg.
Die ganze Unternehmung war für die Katz.
»Ich gehe dann«, verabschiedete ich mich von Mitchs Hinterkopf. »Bleib ruhig sitzen.«
Er stellte den Fernseher noch einmal auf tonlos. »Warte. Nimmst du sein Zeug nicht mit?«
Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit, wenn auch nur kurz und mit dem falschen Fokus. »Ich habe keinen Laptop gefunden. Habe ich den nur übersehen, oder hat der andere Typ ihn mitgenommen?«
»Der ist in seiner Sporttasche.«
»Eine Sporttasche ist mir auch nicht aufgefallen.«
»Sieh in dem Schrank im Flur nach. Neben der Wohnungstür.«
In dem Schrank hingen nicht mehr ganz neue Windjacken, Lederjacken, Mäntel und Steppjacken. Auf dem Boden türmte sich ein kleiner Stapel abgetragener Laufschuhe und Sandalen. Daneben standen drei Kästen mit leeren Corona-Bierflaschen. Außerdem entdeckte ich einen einzelnen Skistock, einen angeschlagenen Ton-Blumentopf mit einem längst vertrockneten Weihnachtsstern und, ganz zuunterst, eine abgewetzte, zerbeulte schwarze Nylontasche.
Die zog ich heraus. Sie war überraschend schwer.
»He, wieso hat der andere Typ die nicht mitgenommen?«, rief ich.
Mitch wartete, bis der Werbespot, in dem lauthals eine Hähnchenpanade angepriesen wurde, vorbei war. Dann sagte er: »Hat nicht danach gefragt.«
Vielleicht war dieser Mitbewohner schlauer, als er aussah.
Ich öffnete die Tasche. Sorgsam in ein muffiges Handtuch gewickelt und begraben unter einem Knäuel aus ehemals weißen Socken, Sweatshirts, T-Shirts und Funktionsshorts lag da ein roter Dell-Laptop.
Aber was lose auf dem Boden der Tasche herumflog, war weitaus interessanter.
Ich blickte auf. Mitch verfolgte schon wieder die Diskussion zwischen der Blonden und dem Glatzkopf.
Als ich sie anhob, klirrte es in der Tasche. Es flogen Hunderte – vielleicht auch tausend oder mehr – Casino-Chips darin herum. Schwarze, grüne, blaue, dunkelrote. Den Logos nach stammten sie aus fünf, sechs verschiedenen Casinos in New York, New Jersey und Connecticut. Hektisch versuchte ich den Gesamtwert zu überschlagen – es war unmöglich. Er lag auf jeden Fall bei mindestens 100 000 Dollar. Was ich da vor mir hatte, bedeutete für geraume Zeit finanzielle Sicherheit für den Jungen und mich.
Es konnte die eine oder andere Komplikation geben – zum Beispiel war fraglich, was mein Bewährungshelfer sagen würde, wenn ich – in einem anderen Bundesstaat – in einem Casino erwischt wurde. Ich brauchte nur einmal in der U-Bahn auszuspucken, schon konnte er mich wieder ins Gefängnis schicken. Damit war eine Bedingung gesetzt: Er durfte es nie erfahren.
»Ich nehme die ganze Tasche mit, wenn’s recht ist«, sagte ich.
»Wann kommst du und holst den Rest?« Er drehte sich noch nicht einmal um.
»Ich melde mich.«
Die blonde Frau umarmte den Glatzkopf. Er sah dabei nicht glücklich aus.
Ich zog die Tür hinter mir zu.
Auf dem Bahnsteig, knapp außerhalb des Lichts, das die flackernden Neonröhren warfen, standen dicht zusammengedrängt ein paar Jugendliche. Sie trugen alle ähnliche dunkle Kapuzenpullis, Baggy-Jeans und teuer aussehende Basketballschuhe, als wären sie uniformiert. Sie konnten natürlich auf dem Weg zur Gospelchorprobe sein, und wenn es so war,vergaben sie mir gewiss, dass ich direkt vor dem Fahrkartenschalter stehen blieb und
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