Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
»Warum?«
»Wie gesagt. Ich arbeite für Weld . Ich soll da ein paar offene Fragen klären.«
Er lachte. »Das ist komisch.«
Ich fragte mich, welche Art von pharmazeutischem Cocktail er sich wohl zugeführt hatte. »Was?«
»Genau das Gleiche hat der andere Typ auch gesagt. Letzte Woche. Offene Fragen. Das ist komisch.«
Dass ich die Komik nicht zu erkennen vermochte, konnte nur chemische Ursachen haben.
»Hat dieser Typ einen Namen genannt?«
»Ich weiß nicht.«
Kurz dachte ich daran, mir den anderen Mann beschreiben zu lassen, aber ich entschied mich dagegen. Das Ganze war möglicherweise nur eine Halluzination gewesen.
»Wann würde es denn passen?« Mit meinem Vater war verabredet, dass er Kid den ganzen Sonntag nahm. »Wäre Sonntag gut? Gegen Mittag?«
Gegen Mittag war nicht gut. Der Mitbewohner arbeitete am Wochenende beide Nächte durch. Spätnachmittag war gut. Spät.
Sonntagmorgen.
Ich machte Pfannkuchen, während Kid eins seiner Autobücher las. Ich wusste, dass er nicht lesen konnte – obwohl er alle Buchstaben erkannte, wenn sie groß geschrieben waren –, aber sein Gedächtnis war so enorm, dass er eine Seite, die er einmal angeschaut und vorgelesen bekommen hatte, im Wortlaut wiedergeben konnte. Ließ er ein Wort aus, dann immer dasselbe – das war dann einfach ein weißer Fleck in seiner Erinnerung. Auch wenn seine Stimme ohne Frage die eines Fünfjährigen war, erkannte ich an Aussprache und Betonung immer, wer ihm die jeweilige Seite zum ersten Mal vorgelesen hatte. Im Rhythmus seines Umblätterns zogen die Geister der Lebenden an mir vorbei: Angies Singsang mit Höhen und Tiefen, ihre manchmal schleppende Artikulation bei langen Wörtern; die ausdrucksstarke, dramatische Stimme meines Vaters, die ich so noch nie gehört hatte; Mammas sirupsüßer Ton, der Beschreibungen von dualen Vergasersystemen und Einspritztechnik klingen ließ, als ginge es um Magnolienblüten und Passionsfrüchte. Und es gab noch eine Stimme, die ich zunächst gar nicht erkannt hatte. Ein bisschen flach, aber fest. Kräftig und zurückhaltend zugleich. Es war eine angenehme Stimme. Ich mochte sie.
»Frühstück, Kid!« Pfannkuchen mit Maissirup, eine Vorliebe, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Die behauptete, Ahorn schmecke »merkwürdig«.
»Keinen Hunger.« Wenn ich jemals herausfand, wessen Tonfall er übernahm, wenn er in den »Nein«-Modus ging, würde ich denjenigen foltern, so viel stand fest.
»Macht nichts, mein Junge. Wir essen jetzt.«
»Keinen Hunger.« Er blätterte eine Seite weiter und ratterte die kurze Geschichte des DeLorean herunter. Was in dem Buch nicht erwähnt wurde, war, dass deren CEO einmal festgenommen worden war, weil er mit Kokain gehandelt hatte.
Ich wartete, bis er fertig war. Dann sagte ich: »Gut, Kid. Jetzt leg es weg und komm her.«
Er wirkte angespannt. Ich war sicher, dass jeden Augenblick ein größerer Zusammenbruch bevorstand. Doch dann kam er, tonlos pfeifend wie ein Teekessel, an den Tisch und begann zu essen. Ein weiterer Sieg für uns beide.
Ein paar Minuten später klingelte mein Vater, und ich bot auch ihm Frühstück an.
»Was zum ...? Was ist das?«
»Maissirup«, sagte ich.
»Schmeckt merkwürdig.«
Er aß die Pfannkuchen trotzdem.
Nach einer längeren Diskussion über den richtigen Gebrauch von Autokindersitzen und einer noch längeren über die verschiedenen Routen, die möglich waren, schnappte er sich den Jungen und ein paar Spielzeugautos, und sie brachen auf zu ihrem Tagesausflug in einen Streichelzoo in New Jersey.
Ich putzte die Wohnung, kaufte das Nötigste ein, las noch ein Kapitel aus The Science and Fiction of Autism , ließ – reichlich spät – Wanda ein Dutzend Rosen schicken, mit einer Karte, auf der das Wort »Liebe« nicht vorkam, aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurde, und sah mir die Strecke nach Brooklyn an.Am Spätnachmittag fuhr ich das erste Mal in meinem Leben mit der U-Bahn-Linie J – vorbei an den Blocks mit Sozialwohnungen auf der Lower East Side und der Gegend von Ralph und Alice Kramden aus Honeymooners , bis an die Grenze von East New York. Der Mitbewohner von Brian Sanders residierte in einem der etwa zehn Backsteinhäuser eines Blocks, der noch nicht saniert worden war.
Wie krank der New Yorker Immobilienmarkt immer noch war, bewies die Tatsache, dass ein junger Mann, der 150 000 im Jahr verdiente, oder vielleicht auch mehr, nach wie vor gezwungen war, in einer WG zu wohnen, im dritten Stock
Weitere Kostenlose Bücher