Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
Vom Netzwerk:
wie er es früher immer getan hat. Aber wenn ich aufstehe, sehe ich all die leeren Plätze in diesem Haus. Dass Matthew nicht hier ist, sondern sich in Nairobi um den Verstand säuft. Dass Chris nicht in seinem Bettchen liegt, sondern hinter dem Haus auf diesem kleinen Friedhof, den wir nur seinetwegen angelegt haben. Eigentlich hätte er uns eines Tages zu Grabe tragen müssen, das ist der Lauf der Dinge. Kinder beerdigen ihre Eltern, und auch wenn ich ihm diesen Schmerz ersparen wollen würde, ist das eben so. Aber nein, er ist tot, in seinem winzigen Sarg bestattet, und ich geh jeden Tag zu ihm und sage ihm, wie leid mir das tut und wie sehr ihn seine Mama und sein Papa vermissen. Ich sitze an seinem Grab und singe ihm Schlaflieder, damit er keine Angst hat da unten im Dunkeln!» Jetzt erhob sie die Stimme und kreischte fast. «Und du hast überhaupt nichts verloren. Du hast dich bei einem Picknick vergnügt, als er krank war, du warst immer die Freundin, die sich die schönen Tage rausgepickt hat. Aber es gibt eben nicht nur die schönen Tage, hörst du? Er ist tot, und jetzt sind die Tage eben traurig, aber jeder von uns strengt sich an. Nur du liegst im Bett und starrst die Wand an, obwohl du längst nicht so viel verloren hast wie wir!»
    Atemlos hielt sie inne. Sie bemerkte erst jetzt, dass ihr die Tränen haltlos über die Wangen rannen. Bestimmt hatte man sie im ganzen Haus gehört, aber sie schämte sich nicht dafür. Sollte Timothy doch denken, sie habe den Verstand verloren. Das könnte er ihr dann zugutehalten, wenn er in Nairobi herumerzählte, dass sie sich den Negern an den Hals warf.
    «Also, ich würde mich freuen, wenn du mit uns frühstückst», fügte sie ruhiger hinzu.
    Fanny richtete sich auf. Sie starrte Audrey an und erhob sich schließlich. «Ich komme gleich», flüsterte sie.
    «Danke», erwiderte Audrey, doch Fanny schüttelte den Kopf, als gebe es keinen Grund, sich für irgendwas zu bedanken.
    Das Frühstück verlief in gedrückter Stimmung. Nur Audrey sprach hin und wieder. Sie gab Fanny Anweisungen für die nächsten Tage ihrer Abwesenheit. Timothy kratzte genüsslich sein gekochtes Ei aus, bestrich den Toast dick mit Butter und verlangte sogar ein zweites Ei, das Kamau erst brachte, nachdem Audrey genickt hatte. Außer Tee war bei ihnen alles knapp, weil das Geld fehlte. Aber das sagte sie ihm nicht.
    Nach dem Frühstück packte sie in aller Eile ein paar Sachen und verabschiedete sich von Thomas. Es tat ihr weh, ihren Sohn zurückzulassen, aber sie versprach ihm, bald zurückzukommen und den Papa heimzubringen. Und sie versprach auch, dass alles wieder gut werden würde irgendwann, obwohl sie sich da gar nicht so sicher war.
    Ein kurzer Besuch am Grab. Eine frische Lilie stellte sie in die kleine Vase, die sie in den Grabhügel eingebuddelt hatte, damit der Wind sie nicht umwarf. Dann hetzte sie zum Kikuyudorf, um mit Kinyua das Nötigste zu besprechen.
    Auf dem Weg durch den kleinen Wald, der zwischen Dorf und Plantage lag, hielt sie inne. Sie blieb einfach stehen und ließ die Welt um sich herum auf sich wirken.
    Das üppige Grün umschloss sie wie eine lebendige Höhle, und die Geräusche im Unterholz, das leise Rascheln und Flüstern des Winds in den Baumwipfeln, schreckte sie nicht mehr wie am Anfang. Wenn sie sich überlegte, dass sie anfangs nicht mal allein zum Klohäuschen gewollt hatte, weil sie sich so fürchtete …
    Ich bin angekommen. Das hier ist meine Heimat. Ich reite nach Nairobi, um meinen Mann zu stützen.
    Sie wusste nicht, woher diese Stärke plötzlich kam, diese Gewissheit, dass alles sich irgendwann wieder zum Guten wenden würde. Nach dem Krieg. Nach der Geburt ihres Kindes, das sie in wenigen Wochen zum ersten Mal würde spüren können, von dem sie jetzt aber schon wusste, dass es in ihr wuchs und gedieh. Der Krieg, der Tod und Matthews Trauer, ihr eigener Schmerz – all das müsste ihr doch die Kraft rauben, doch was blieb, war nur das unerschütterliche Wissen, dass sie es wieder in Ordnung bringen konnte.
    Vor vielen Jahren war sie einmal daran gescheitert, alles wieder heil zu machen, und sie bereute das bis heute. Sie spürte die Schuld noch immer. Aber sie war nicht mehr so erdrückend, sondern ruhte nur noch ganz leicht auf ihren Schultern, gemeinsam mit Verantwortung und Trauer.
    Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Sie hatte ihre Mutter immer wütend anfauchen wollen, wenn diese so etwas sagte, aber sie begriff jetzt, was es hieß, ein

Weitere Kostenlose Bücher