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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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wirklich nichts. Kein Buch, keine Zeitung, gar nichts. Die ganzen drei Wochen haben wir Whist gespielt, bis keiner von uns mehr Spielkarten sehen konnte, und die Männer waren ständig betrunken.»
    Bei der Erwähnung von Matthews Eltern horchte Audrey auf. «Er hat mir noch nichts von seinen Eltern erzählt», gestand sie. Vorsichtig tippte sie die Krümel vom Teller auf. «Ich weiß auch gar nicht, was mit ihnen passiert ist.»
    «Das ist eine traurige Geschichte.» Rose seufzte schwer. «Nicht geschaffen, um dein zartes, unbelastetes Gemüt damit zu beschweren, Liebes. Genieß einfach den Tag. Es muss schwer genug gewesen sein, von deinen Eltern Abschied zu nehmen.»
    Sie hatte die Frage geschickt umschifft. Audrey fragte nicht nach. Sie vertiefte sich in ihr Buch und hatte Matthews Eltern schon bald vergessen.
    Am späten Nachmittag tauchte Reggie auf. Seine Krawatte saß locker, er war im Gesicht ganz rot und ließ sich schnaufend auf eine Liege neben ihnen fallen. Sofort war der Steward zur Stelle und nahm seine Wünsche entgegen. Audrey lächelte flüchtig und versuchte, sich wieder auf ihr Buch zu konzentrieren.
    «Ihr glaubt es nicht. Ihr glaubt nicht, was es auf diesem Schiff alles gibt!»
    «Du wirst es uns sicher bald erzählen», bemerkte Rose liebenswürdig.
    «Ach, Röschen.» Er seufzte. «Du hättest mitkommen sollen. Die Bibliothek hätte dir gefallen. Oder dass der Kapitän uns für heute Abend an seinen Tisch eingeladen hat, das wird dir auch gefallen.»
    Rose tat, als lese sie. Dabei bemerkte Audrey aus dem Augenwinkel, wie sie sich ein Schmunzeln verkniff und es vorsichtshalber hinter dem dicken Buch versteckte.
    «Was gibt es denn noch auf dem Schiff?», erlöste Audrey ihn schließlich.
    «Eine Hure!», platzte er stolz heraus.
    «Reggie!» Empört ließ Rose das Buch sinken.
    «Pardon. Ich meine natürlich: eine junge Dame zweifelhaften Rufs», korrigierte er sich.
    Audrey spürte, wie sie rot wurde.
    «Ich finde, das ist kein Thema, das du mit einer jungen, unverheirateten Dame erörtern solltest.» Was Audrey bisher nicht für möglich gehalten hatte: Rose konnte tatsächlich richtig ungehalten werden. «Eigentlich ist es kein Thema, das du überhaupt mit
irgendwelchen
Damen erörtern solltest. Ich hoffe, du hast nicht schon mit dem halben Schiff über das arme Mädchen geredet.»
    «Das arme Mädchen heißt Fanny. Und sie reist in der ersten Klasse. So arm kann sie also nicht sein.»
    Selbstzufrieden lehnte Reggie sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Steward brachte ihm einen Teller, auf dem ein Stapel Schinkensandwiches lag, über die sich Reggie zufrieden hermachte.
    Das Schiff hatte im Laufe des Tages freies Gewässer erreicht. England lag hinter ihnen, und das Schiff stampfte fröhlich auf dem Meer dahin Richtung Südost. Der Wind hatte aufgefrischt, es war empfindlich kühl.
    Die Möwen hatten den Begleitschutz des Ozeandampfers irgendwann aufgegeben. Was von England blieb, waren die Erinnerungen – und die Fotografien ihrer Familie, die zusamen mit dem Brief an Matthew in ihrem Dickens lagen.
    «Ein leichtes Mädchen, das erster Klasse reist?» Rose rümpfte die Nase. «Das sollte der Kapitän erfahren, findest du nicht? Er wird nicht erbaut sein, dass sich inzwischen sogar Prostituierte bei den guten Leuten tummeln. Was kommt als Nächstes? Diebe und Marktweiber?»
    Rose hatte natürlich recht. Und dann überlief es sie kalt. Teilte diese Fanny, dieses leichte Mädchen, womöglich mit ihr die Kabine? Hatten diese unordentlichen Sachen auf dem anderen Bett nicht irgendwie … ordinär gewirkt?
    Was sollte sie denn jetzt machen?
    «Der Kapitän weiß davon, er hat’s mir selbst erzählt.» Geräuschvoll schleckte sich Reggie die Finger ab. «Ah, köstlich. Er meint, sie wird von einem verheirateten Mann ausgehalten, das darf aber eigentlich keiner wissen. Dass sie ausgehalten wird. Und dass sie an Bord ist, sowieso nicht.»
    «Dann sollten wir auch nicht weiter darüber sprechen», beschied Rose. «Sieh doch nur, die arme Audrey weiß gar nicht, wohin mit sich vor lauter Verlegenheit. Sie ist ganz rot geworden.»
    Audrey tat, als blickte sie erstaunt von ihrem Buch auf. «Was ist denn?», fragte sie.
    Reggie zwinkerte ihr zu, und Rose war erleichtert. «Nichts, nichts», erwiderte sie. «Reggie hat mit dem Kapitän geredet, und wir sind heute Abend an seinen Tisch eingeladen. Ich fürchte, wir müssen uns schon bald umziehen und frisieren, damit wir

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