Am Fuß des träumenden Berges
rechtzeitig fertig sind.»
Als Audrey in ihre Kabine kam, stellte sie erleichtert fest, dass die Taschen verschwunden waren. Sie hatte sich bereits umgezogen, saß vor dem Spiegel des winzigen Toilettentischs und steckte ihre schweren, dunklen Haare auf, als ihre Mitreisende endlich auftauchte.
«Oh, ich wollte nicht stören.»
Audrey fuhr auf dem kleinen Hocker herum.
«Ich bin Ihre Mitreisende. Alva Lindström.»
Alva Lindström war mindestens siebzig. Ihr schmales, knittriges Gesicht beherrschten große, graue Taubenaugen, und ihre Haare waren von einem zarten Honigbraun, das von grauen Strähnen durchzogen war. Sie hatte einen Spazierstock in der Rechten, mit dem sie auf den Holzboden klopfte.
«Audrey Collins.» Audrey sprang auf und begrüßte Alva. «Sie sind keine Engländerin, nicht wahr?»
«Das sagt wohl schon der Name, mh? Bin ich nicht. Mein Mann war Däne. Ist vor acht Jahren gestorben, der arme Poppie. Wir haben zeit unseres Lebens in London gelebt.»
Ihr Akzent war ein heller Singsang. Ebenfalls Skandinavierin, tippte Audrey. Schwedin vielleicht oder Dänin.
Kein leichtes Mädchen namens Fanny jedenfalls.
Audrey gestand es sich nur ungern ein, aber irgendwie war sie enttäuscht.
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5 . Kapitel
Fünf Tage später sollte sie Fanny kennenlernen.
Nachmittags bot die Schiffsbesatzung den Passagieren der ersten Klasse auf dem Oberdeck stets einiges an Unterhaltung, um die lange Schiffsreise etwas angenehmer zu gestalten. Es gab Gymnastik für die Damen und die Herren – natürlich strikt nach Geschlecht getrennt und zu verschiedenen Zeiten –, man konnte kegeln, und im Salon direkt daneben fanden sich die Älteren zu Whist und Canasta ein. Schon bald kannte Audrey viele der Gäste, und sie war eine beliebte Mitspielerin – weniger, weil sie so überragend gut war, sondern weil die meisten es schätzten, dass sie eine verlorene Partie nicht krummnahm.
Andere Leute gewannen gerne, Audrey dagegen mochte es zu verlieren. Das rückte sie wieder an den rechten Ort. Denn dass sie das alles nicht verdiente – die unverhoffte Güte von Rose und Reggie, die Schiffsreise und eine
Zukunft
! –, ließ sie inzwischen fest daran glauben, nichts weiter als eine Hochstaplerin zu sein. Und schon in wenigen Wochen wäre alles vorbei.
Es passierte bei der nachmittäglichen Kegelrunde. Gerade hatte Wendy Thompson, eine stille, schüchterne Amerikanerin, alle Kegel abgeräumt, und zwei Schiffsjungen, die eigens dazu da waren, stellten die Kegel wieder auf. Audrey notierte Wendys Punktzahl auf der Tafel und klopfte sich die Kreide von den Fingern. Sie war schon jetzt hoffnungslos im Rückstand.
«Sehen Sie nur, da steht sie wieder.» Wendy trat zu ihr. «Ich würde sie gern hinzubitten, aber meine Mutter sagt, sie ist kein Umgang für mich.»
«Wen meinen Sie?» Audrey drehte sich suchend um. Dann entdeckte auch sie die schmale Gestalt, die in einiger Entfernung an der Reling stand. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Sogar der Sonnenschirm war aus schwarzer Spitze.
Bisher hatte Audrey sie noch nie gesehen.
«Das ist diese …» Wendy senkte die Stimme. «Leichte Dame», fügte sie dann flüsternd hinzu und wurde knallrot.
Sie sah gar nicht aus wie eine Prostituierte, fand Audrey. Nicht, dass sie schon mal eine gesehen hätte. Sie wusste nicht einmal genau, was so eine Frau machte, dass es ihren Ruf so nachhaltig beschädigte.
«Sie sieht einsam aus», befand Audrey.
Wendy riss die Augen weit auf. «Ist das ein Wunder? Sie ist eine … na, Sie wissen schon. Vermutlich hat meine Mutter recht. Diese Frau hat sich selbst ausgesucht, was sie ist. Sie ist es nicht wert, dass man sich Gedanken um sie macht. Sie sind dran.»
Wendy gewann die Partie. Die anderen jungen Frauen und Wendy beschlossen, nach unten in den Speisesaal zu gehen, wo zu dieser Zeit die Teestunde eingeläutet wurde. Lachend und schnatternd verschwanden sie, nachdem Audrey sich entschuldigt hatte. Sie wollte noch ein bisschen frische Luft schnappen.
Sie schlenderte an der Reling entlang, blieb hie und da stehen und schaute aufs Meer hinaus. Die
Berwick Castle
machte gute Fahrt. Nach Southampton würde es viele Tage dauern, ehe sie Gibraltar anfuhren, den nächsten Hafen. Rings um das Schiff gab es nichts als Meer und Leere. Diese Leere verstärkte Audreys Einsamkeit.
Was ihr fehlte, waren Matthews Briefe. Sie hatten Audrey in den letzten elf Monaten gerettet, immer wieder. Und nun, da sie auf dem Weg zu ihm
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