Am Fuß des träumenden Berges
war, kam keine Nachricht mehr von ihm.
Unwillkürlich fuhr ihre rechte Hand unter die Manschette ihrer Bluse. Die Fingernägel gruben sich tief ins linke Handgelenk. Ganz langsam auf und ab.
Der Schmerz war eine Wohltat. Er weckte sie auf, schärfte ihre Sinne. Jetzt sah sie die Sonne wieder, die sich über dem milchigen Schleier zu wärmen mühte. Sie sah die Gischt und schmeckte das Salz des Meeres.
«Ein guter Ort, um zu weinen, nicht wahr?»
Audrey fuhr herum. Da war sie, die schwarz gekleidete, junge Frau, von der Wendy behauptete, es handle sich um jene leichte Dame namens Fanny.
«Ich weine gar nicht», erwiderte Audrey reflexartig, doch im selben Moment spürte sie, wie der Wind die Tränen auf ihren Wangen beißend trocknete, und das Salz ihrer Tränen schmerzte unerträglich in den Augenwinkeln. Sie schloss für einen Moment die Augen.
«Natürlich nicht, entschuldigen Sie. Ich wollte mich nicht aufdrängen.»Damit wandte sich die junge Frau ab.
«Weinen Sie oft?», rief Audrey hastig hinter ihr her.
Die andere blieb stehen. Wandte sich ihr halb zu und lächelte traurig. «Tun wir das nicht alle?», fragte sie zurück.
Sie wusste, wie Audrey sich fühlte.
«Doch», antwortete sie leise. «Ständig.»
Nach diesem verwirrenden Gespräch dauerte es weitere zwei Tage, ehe sie sich wiedersahen. Jetzt hielt Audrey nach Fanny Ausschau, doch hatte sie das Gefühl, die andere wolle nicht gefunden werden. Und als Audrey sie endlich in der Ferne am Bug des Oberdecks entdeckte, wandte sich die schwarz gekleidete Gestalt hastig ab und eilte davon.
Sie war wieder allein.
Hatte Reggie nicht erzählt, es gebe einen Begleiter? Wo war er? Ließ er sie etwa die ganze Zeit allein?
Kein Wunder, dass sich die anderen Passagiere das Maul zerrissen und dass Fanny versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen.
Audrey schritt aus und eilte zum Heck. Dort war niemand, und auch auf der anderen Seite des Oberdecks lagen nur hell gekleidete Passagiere in ihren Liegestühlen. Die Stewards servierten Erfrischungen. Gedämpftes Lachen und das sanfte Klingen der Champagnergläser schallten herüber.
Audrey trat an die Reling. Tief unter ihr wühlten die Schiffsschrauben das Meer auf, dass es schäumte. Sie starrte in diesen Schlund aus Wasser und Schaum. War Fanny etwa auf der Flucht vor ihr ausgerutscht und gestürzt? Sie strengte die Augen an. Ja, fast glaubte sie, etwas Schwarzes aufblitzen zu sehen. Konnte das der Sonnenschirm sein?
Sie beugte sich weiter vor. Ihr Oberkörper schwebte über der Leere, und dann rutschte ihre linke Hand vom Geländer.
«Passen Sie doch auf!»
Die Hand, die sie zurückriss, grub sich schmerzhaft in Audreys Oberarm. Sie zuckte zurück. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre rücklings über die Reling gekippt. Aber Fanny packte beherzt zu. Audrey hörte, wie Stoff riss – ihre Bluse, fuhr es ihr durch den Kopf –, und im nächsten Moment hatte Fanny sie umschlungen und drückte Audreys Kopf gegen ihre Schulter.
«Sie sind ja verrückt», hörte Audrey die andere murmeln. «Sich in den Tod zu stürzen … Das ist es doch nie wert.»
Audrey wollte widersprechen. Sie hatte sich nicht in den Tod stürzen wollen. Doch ehe sie etwas sagen konnte, setzte der Schock ein, und ihre Knie wurden weich. Fanny hielt sie und schaffte es irgendwie, Audrey zum nächsten Liegestuhl zu bugsieren. Sie selbst setzte sich neben sie. Hier hinten waren sie ganz allein, und erst jetzt fiel Audrey auf, dass sie Fanny vermutlich übersehen hatte, weil diese in einem der Liegestühle gesessen hatte.
«Geht es Ihnen besser?»
Audrey nickte stumm. Sie kam sich so dumm vor! Hatte sie wirklich gedacht, Fanny sei ins Meer gefallen?
«Danke», flüsterte sie.
«Sie sind ja ganz blass um die Nase. Warten Sie, ich hole Ihnen eine Decke und lasse uns Tee kommen.»
Ehe Audrey widersprechen konnte, war Fanny schon verschwunden. Audreys Bluse war tatsächlich zerrissen, als Fanny versucht hatte, sie vor dem tiefen Fall zu bewahren. Der Riss zog sich von der Schulter an der Seite bis zur Taille. So konnte sie unmöglich hier oben sitzen. Sie musste schleunigst in die Kabine und sich etwas anderes anziehen.
Bevor sie sich aus dem Liegestuhl hieven konnte – denn ihre Knie zitterten immer noch, und ihr war kalt, obwohl die Sonne heute unerbittlich brannte –, war Fanny schon zurück. Sie breitete eine Decke über Audrey und zog sie ihr bis hoch zur Brust. «So, das wird gehen», sagte sie zufrieden. «Ich
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