Am Fuß des träumenden Berges
habe uns was zu essen und Tee bestellt. Ihr Engländer trinkt doch so gerne Tee.»
«Mein Zukünftiger … mein Verlobter hat eine Teeplantage.»
«Ah, dann reisen Sie ihm nach. Das ist doch eigentlich kein Grund, sich in die Fluten zu stürzen. Es sei denn, er ist ein Ekel.»
«Das ist er nicht. Bestimmt nicht.» Audrey lachte zittrig. Sie setzte sich auf, als der Steward um die Ecke kam. Er zog ein Tischchen zwischen die beiden Liegestühle und servierte einen Teller mit herzhaften Sandwichs zum Tee.
«Greifen Sie zu», forderte Fanny sie auf. «Nach dem Schreck sollten Sie was essen.»
Audrey gehorchte. Eigentlich hatte sie gedacht, eine leichte Dame – oder «Hure», wie Onkel Reggie sie genannt hatte – sei nicht so … normal.
«Reisen Sie allein?», fragte sie zwischen zwei Bissen.
«Gewissermaßen.» Fannys offenes Gesicht verfinsterte sich, und sofort tat es Audrey leid, so neugierig gewesen zu sein.
«Entschuldigen Sie bitte. Ich bin zu aufdringlich.»
«Nein, ist schon in Ordnung. Tun Sie aber bitte nicht so, als hätten Sie nichts von den Gerüchten über mich gehört.» Fanny biss in ein Sandwich mit Roastbeef. Sie blickte starr geradeaus auf das Meer, das hinter dem Schiff am Horizont verschwand.
Betreten senkte Audrey den Kopf. Sie hätte es besser wissen sollen. Schließlich wusste sie, wie grausam die Leute sein konnten, wenn jemand nicht dem entsprach, was sie als normal ansahen. Oder wenn jemand etwas tat, das zu schwer wog, um jemals verziehen zu werden.
«Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.»
«Hören Sie doch auf, sich zu entschuldigen. Wir können beide nichts dazu, wie die Menschen sind. Die Menschen wollen nun mal reden. Vornehmlich darüber, was nicht dem entspricht, was sie erwarten. Und ich bin eben aus der Art geschlagen.» Sie lächelte entschuldigend. «Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich reise allein. Ich habe eine Einzelkabine, und abends sitze ich allein an einem Tisch, während der Mann, der mich aushält, mit seiner hübschen Frau und den beiden wohlgeratenen Kindern am anderen Ende des Speisesaals sitzt. Jeder in der ersten Klasse weiß, dass es mich gibt. Sie ist die Einzige, die mich kennt. Sie toleriert mich. Ich bin die andere. Die Mätresse. Die Hure, für die er niemals seine Frau verlassen würde.»
Es klang nicht verbittert, sondern geradezu fröhlich.
«Aber warum … warum tun Sie das?», fragte Audrey.
«Irgendwann will man sich nicht mehr damit zufriedengeben, nichts zu haben. Man nimmt das wenige, was man bekommen kann.» Fanny zuckte mit den Schultern. «So geht es Ihnen doch auch, nicht wahr?»
An diesem Tag blieb Audrey mit Fanny auf dem Achterdeck. Sie erfuhr viel über die junge Frau – und das meiste erstaunte sie, weil es so gar nicht dem entsprach, was sie sich unter einem leichten Mädchen vorstellte.
Fanny bevorzugte den Begriff Mätresse oder auch Geliebte – denn sie ließ sich nicht von verschiedenen Männern Geld zahlen, sondern war dem einen unerbittlich treu. Seit drei Jahren kannte sie ihn, dessen Namen sie während des ganzen Gesprächs kein einziges Mal nannte, und etwa ebenso lang war sie nun seine Geliebte. Was anfangs aufregend und abenteuerlich gewesen war, hatte sich in den Monaten und Jahren darauf zu einem ständigen Kampf entwickelt – gegen ihn, gegen seine Ehefrau, gegen die Gesellschaft.
Fanny stammte aus Deutschland. Ihre Mutter war eine preußische Freifrau, ihr Vater ein englischer Offizier. Aufgewachsen war sie in der Nähe von Danzig, doch mit siebzehn hatte ihre Mutter sie nach England auf ein Pensionat geschickt, und kurze Zeit später hatte ihr Vater sie mit
ihm
bekannt gemacht.
«Nennen wir ihn Jack», sagte Fanny, um dem Namen ihres Geliebten nicht länger ausweichen zu müssen.
Jack war reich. Einer der reichsten Männer Englands, einer der bekanntesten Fabrikanten mit Besitzungen in aller Welt. Er war verheiratet (glücklich, wie er immer betonte), und seine zwei Kinder waren sein ganzer Stolz. Seine Frau und er hatten sich auseinandergelebt, und diese entstandene Lücke war gerade groß genug für Fanny.
«Sie toleriert mich», sagte sie leise. «Solange ich unsichtbar bleibe. Ich darf mich tagsüber nicht an Deck zeigen, und abends halte ich größtmöglichen Abstand. Ginge es nach ihr, müsste ich zweiter Klasse reisen. Aber das will er nicht. Er liebt mich, und ich liebe ihn.»
«Sie könnten doch auch heiraten», wandte Audrey. «Einen anderen.»
«Das wäre
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