Am Fuß des träumenden Berges
nicht dasselbe. Ich liebe ihn. Und mich will doch keiner mehr.» Fanny lachte. «Sobald mein Zukünftiger von meiner Vergangenheit erfährt – und das würde er ganz bestimmt –, wäre es doch vorbei, ehe es überhaupt begonnen hätte. Nein, ich werde mir diese Schmach ersparen. Irgendwann, wenn Jack meiner überdrüssig wird, soll er mir einen anständigen Geldbetrag zahlen, und ich werde mir irgendwo ein stilles Plätzchen suchen, an dem ich alt werden kann. So werde ich es machen.» Sie nickte entschlossen.
Audrey antwortete nicht. Sie musste an Matthew denken. Sobald er von ihrer Vergangenheit erfuhr … Nun, Fanny hatte recht, er durfte es unter keinen Umständen erfahren.
«Aber genug von mir. Erzählen Sie mir lieber von Ihrem zukünftigen Ehemann. Bestimmt ist er ein schneidiger, attraktiver Kerl, der Ihnen jeden Wunsch von den Lippen abliest.»
«Das weiß ich gar nicht so genau.» Audreys Lachen klang etwas zittrig. «Ich kenne ihn nicht so gut.» Rasch erzählte sie von den Briefen und von Tante Rose und Onkel Reggie, die sie nach Afrika begleiteten.
Fanny riss die Augen weit auf. «Das nenne ich mutig!», rief sie. «Sie sind ihm noch nie begegnet?»
Audrey schüttelte den Kopf.
«Und Fotos? Sie haben doch bestimmt ein Foto von ihm?»
Auch das musste Audrey verneinen.
«Also … Ich meine, nichts gegen Ihren Zukünftigen, Sie werden schon gute Gründe haben, warum er der Richtige ist für Sie. Aber was machen Sie, wenn er über Kreuz guckt oder einen Buckel hat?»
Audrey lachte. Den Buckel führte so ziemlich jeder an, der von ihrem etwas ungewöhnlichen Arrangement erfuhr. «Das wird er schon nicht», versicherte sie Fanny. «Außerdem zählt doch nur, dass er ein herzensguter Mensch ist. Und das ist er, das weiß ich.»
Doch als sie an diesem Abend mit Tante Rose und Onkel Reggie zum Dinner ging und Fanny ganz allein an einem kleinen Tisch in der dunkelsten Ecke des Speisesaals sitzen sah, gingen ihr die Worte ihrer neuen Freundin nicht mehr aus dem Kopf.
Wir weinen ständig, weil es sonst nicht auszuhalten ist.
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6 . Kapitel
Die Tage auf See wurden lang und länger. Die Ödnis der ständig wiederkehrenden Zerstreuungen, die sich nach zwei Wochen bereits deutlich abgenutzt hatten, zermürbte die Passagiere. Niemand mochte mehr kegeln, niemand hatte Lust aufs Kartenspielen. In den Häfen, die sie anliefen, kamen nur selten neue Passagiere hinzu und wurden dann nach zwei Abenden ebenfalls langweilig.
Inzwischen hatten sie Gibraltar, Tanger, Marseille und Neapel hinter sich gelassen. Der Dampfer hielt auf Suez zu.
Audrey war ständig mit Fanny zusammen. Tante Rose und Onkel Reggie fragten nicht, wie sie ihre Zeit verbrachte, aber da Onkel Reggie weiterhin über alle Decks streunte, wussten sie es vermutlich – und sagten nichts.
Mit Fanny verging wenigstens die Zeit schneller. Sie war in Audreys Alter, hatte jedoch schon so viel mehr erlebt in ihrem Leben, dass Audrey sich neben ihr wie eine Hinterwäldlerin vorkam.
Und dann kam der Hafen von Suez. Er roch anders als die bisherigen Häfen, es herrschte ein ganz anderes, viel lebhafteres Treiben, und über die Dächer der Stadt schallte das Lied des Muezzins, der in der Abenddämmerung zum Gebet rief. Die Luft schmeckte staubig, und das Salz des Meeres biss in die Augenwinkel.
Audrey stand mit Fanny am Achterdeck. Sie beobachteten das Treiben auf der Pier. Ein Dutzend Maultiere wurde von zwei Jungen herangetrieben. Sie schrien und kreischten, damit die störrischen Tiere sich ihrem Willen beugten. Während einer die Maultiere festhielt, lud der andere die Kisten von den Traggestellen auf den Rücken der Tiere und zog sie barfuß und wieselflink die schmale Gangway hinauf, über die Lasten in den Schiffsrumpf geladen wurden.
Sie bedauerte die beiden kleinen Jungen.
«Wieso? Sie haben wenigstens Arbeit und müssen nicht betteln. Das ist ihnen bestimmt lieber.» Fanny stützte die Arme auf die Reling und beugte sich weit vor.
Audrey entgegnete darauf nichts. Sie kam sich sehr dumm vor.
Als der Dampfer Suez verlassen hatte, vertiefte sie sich in ihr Buch. Fanny klagte über Kopfschmerzen und zog sich für ein vorgezogenes Nachmittagsschläfchen in ihre Kabine zurück.
«Miss Collins?»
Ein Steward stand vor ihrem Liegestuhl. Auf einem Silbertablett ruhte ein Brief.
«Dies war in der Post, die wir in Suez mit an Bord genommen haben. Für Sie.»
Erstaunt nahm sie den Brief. Adressiert war er an «Miss
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