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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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schicklich war. Sie wusste, wer er war.
Was
er war.
    Seine Frau Anne war eine hübsche, nein, eine wunderschöne Rothaarige mit winzigen Sommersprossen auf der Nase. Tante Rose plauderte sofort angeregt mit einem Missionar zu ihrer Linken, während Anne neben ihrem Mann saß und nach der beinahe schon peinlichen Begrüßung in ein brütendes Schweigen verfiel. Die anderen lobten die Ochsenschwanzsuppe, aber Anne aß keinen Bissen. Jack hingegen klapperte laut mit dem Löffel auf dem Porzellan und warf Audrey immer wieder heimliche Blicke zu, wenn er glaubte, seine Frau bemerke es nicht.
    Audrey hatte gewusst, wer er war, ehe Kapitän Olsson überhaupt seinen Namen ausgesprochen hatte, und dieser Umstand beunruhigte sie. Wusste er vielleicht auch, dass sie in den letzten Wochen mit seiner Geliebten Fanny so viel Zeit verbracht hatte? Dass sie Freundinnen waren?
    Er glaubte vielleicht, dass er sich nichts anmerken ließ, aber Audrey ahnte, was er dachte. Und seine Frau vermutlich auch.
    «Haben Sie die Reise genossen?», fragte er, als die Kellner den ersten Gang abräumten und Wein nachschenkten.
    Sie konnte nur nicken. Irgendwie hatte sie das Gefühl, er wolle auf irgendwas Bestimmtes hinaus.
    «Vielleicht können wir später noch einen Spaziergang machen. Auf dem Oberdeck.» Mit dieser Bemerkung schloss er auch Onkel Reggie und seine Frau ein. Diese hob abwehrend die Hände.
    «Du weißt, ich lasse die Kinder nur ungern so lange allein.»
    «Ja, natürlich. Entschuldige.» Er lächelte und strich über ihre Hand, eine viel zu intime Geste für die Öffentlichkeit. Mrs. Ellesborough zog die Hand vorsichtig zurück, und Audrey wandte diskret den Blick ab.
    «So ein Spaziergang ist gut, er bringt die Verdauung in Schwung. Ich bin dabei!» Onkel Reggie grinste. «Und mein Röschen ist bestimmt auch mit von der Partie.»
    So kam es, dass sie nach dem Dinner noch an Deck gingen. Jack Ellesborough brachte seine Frau in ihre Kabine und tauchte kurz darauf wieder auf. Er wirkte seltsam verlegen – wie ein Schuljunge, der wusste, dass er was ausgefressen hatte.
    «Entschuldigt bitte, ich habe mein Schultertuch in der Kabine vergessen.» Audrey machte zwei Schritte rückwärts, drehte sich dann um und hastete davon. Tante Rose rief noch erstaunt hinter ihr her, doch Audrey war schon um die Ecke des Gangs gebogen und eilte mit gesenktem Kopf zu den Einzelkabinen. Sie fand Fannys Kabine und klopfte vorsichtig.
    «Fanny? Bist du da?»
    Die Tür wurde geöffnet. Fanny sah verheult aus. Müde und abgekämpft.
    «Audrey …»
    «Willst du ihn sehen?», fragte sie. «Jack. Willst du ihn heute Abend sehen? Er ist auf dem Oberdeck. Allein. Nur meine Tante und mein Onkel sind dabei.»
    Sofort war Fanny hellwach. Sie wischte mit beiden Händen über das Gesicht. Also hatte sie tatsächlich geweint!
    «Ist das wahr?», fragte sie. Ihre Stimme zitterte, als erlaubte sie sich nicht, Hoffnung zu schöpfen.
    «Wenn er Jack Ellesborough heißt, ja. Wir saßen heute am Tisch des Kapitäns, und er hat mich die ganze Zeit angestarrt, als hoffte er, ich würde ihm irgendein geheimes Zeichen geben. Er weiß vermutlich, dass wir befreundet sind.»
    Fanny strahlte. Sie griff nach ihrem Schultertuch und verließ die Kabine. «Danke», flüsterte sie. «Oh Gott, Audrey, wenn du wüsstest, wie viel mir das bedeutet …»
    «Ich kann es mir vorstellen», versicherte Audrey. «Nun komm! Viel Zeit habt ihr nicht.»
    Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat. Vielleicht aus Mitleid mit Fanny, die ihren Jack nur aus der Ferne sehen durfte. Und dann war immer seine Frau zur Stelle. Ein Blick von ihr genügte, um Fanny zu vertreiben. Er kam nicht mal nachts zu ihr, hatte sie in einem besonders offenen Moment beklagt, nur um im nächsten Augenblick erschrocken die Hand vor den Mund zu schlagen. Das habe sie nicht sagen wollen, beteuerte sie sofort, sie wisse, dass allein der Gedanke unrecht sei.
    Audrey hätte es wohl tatsächlich unrecht gefunden, wenn sie nicht gesehen hätte, wie sehr Fanny litt. Wie sehr sie sich danach sehnte, von Jack wahrgenommen zu werden. Ein Blick, ein Lächeln genügte schon, ihr die Zeit erträglich zu machen.
    Bisher hatte Audrey immer gedacht, eine Geliebte sei nur eine Dritte, die sich in eine intakte Ehe drängte – nein, wenn sie ehrlich war, hatte sie noch nie bewusst darüber nachgedacht, was einen Mann trieb, sich eine Geliebte zu nehmen, geschweige denn, was eine Frau dazu brachte, sich fernab jeder ehelichen

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