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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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Zweifeln gewesen. Mehr als einmal hatte sie, als das Schiff in einem Hafen anlegte, darüber nachgedacht, den Brief, der in ihrem Dickens lag, doch noch an ihn aufzugeben. Und jedes Mal hatte sie diese Idee wieder als Unsinn abgetan. Der Brief wäre in einen Postsack gewandert, an Bord der
S. S. Berwick Castle
bis Mombasa gereist und von dort mit dem Zug nach Nairobi. Er hätte also genau die Strecke genommen, die sie auch nahm, und wäre gleichzeitig mit ihr angekommen.
    Fanny legte beide Hände auf Audreys Schultern und sah sie eindringlich an. «Du weißt, dass er gut ist», sagte sie leise. «Sonst wärst du nicht hier.»
    Audrey schluckte. Wenn Fanny wüsste … Sie hatte ihr anvertraut, dass sie mal verlobt gewesen war, aber nicht den Grund, warum die Verlobung gelöst wurde. Warum es für Audrey so schwierig gewesen war, danach neu zu beginnen.
    «Und nun geh. Ich bin sicher, er wird irgendwo auf dem Pier stehen und auf dich warten. Ich werde hier oben bleiben und euch beobachten.» Sie zwinkerte ihr zu.
    Als Audrey die Gangway hinter Tante Rose nach unten ging, stolperte sie fast über ihre eigenen Füße. Alle Aufregung, die sie in den letzten Monaten verdrängt hatte, ballte sich jetzt in ihrem Bauch. Ihre Knie zitterten. Die Hitze brannte auf ihren Scheitel. Hastig spannte sie den blassblauen Sonnenschirm auf und ließ ihn kreisen.
    Der Lärm auf dem Kai war ohrenbetäubend. Noch immer schleppten die Arbeiter unermüdlich Waren aus dem Schiffsbauch. Andere brachten Kisten, Bündel und Säcke, mit denen das Schiff wieder beladen werden sollte. Audrey blieb dicht bei Tante Rose, die wiederum die Hand auf Onkel Reggies Schulter gelegt hatte, um ihm nicht verlorenzugehen. Er marschierte derweil fröhlich drauflos. Das Durcheinander aus Rufen, dem Rattern von Ketten, dem Kreischen von Maultieren und dem dumpfen Tuten des Dampfers schien ihn überhaupt nicht zu beeindrucken.
    Weiter draußen entdeckte Audrey merkwürdig anmutende Segelschiffe mit niedrigem Rumpf, die wie flache Nussschalen wirkten. Das einzige Segel war trapezförmig und blähte sich im heißen Wind. An Deck standen meist zwei oder drei Gestalten und holten Netze ein. Fischer.
    Sie hatte sich einen Moment von dem Anblick ablenken lassen, und schon waren Tante Rose und Onkel Reggie im Gedränge verschwunden. Hilflos wandte Audrey sich zu allen Seiten und drängte sich zwischen den Reisenden der dritten Klasse hindurch, die über eine schmalere Gangway auf den Kai strömten, um etwas frische Luft zu schnappen, ehe sie wieder in den Schiffsrumpf gepfercht wurden. Jemand stieß Audrey einen Ellbogen in die Seite, und als sie leise aufschrie, entschuldigte er sich nicht einmal, sondern schob sich rücksichtslos an ihr vorbei. Ein paar Schritte weiter hatte ein Inder einen kleinen Stand errichtet, an dem er fangfrischen Fisch feilbot. Gerade legte eines dieser merkwürdigen Segelboote an, und die beiden halbnackten schwarzen Männer an Bord warfen einen Korb mit rötlich glänzenden Fischen auf den Kai. Der Inder grinste, packte einen der Fische, der verzweifelt in seinem Griff zappelte, und schlitzte ihm mit einer einzigen, fließenden Bewegung den Bauch auf. Mit dem Messer räumte er die Eingeweide heraus und schob sie über den schmalen Tisch direkt in einen Korb.
    Audrey wich zurück, aber zu spät. Beim nächsten Fisch holte der Mann zu viel Schwung, die Eingeweide segelten an dem Eimer vorbei und klatschten direkt auf ihre Schuhe und den Saum ihres Kleids. Sie musste unwillkürlich würgen und starrte den Mann wortlos an. Erst jetzt bemerkte er sie, grinste und hielt den Fisch hoch.
    Sie fuhr herum – und prallte fast gegen einen Mann, der wie aus dem Erdboden gewachsen plötzlich hinter ihr stand.
    Er war ein gut gekleideter Europäer: blanke Schuhe, ein heller Anzug mit Hemd und Krawatte nebst passendem Einstecktuch. Ein Hut gegen die Sonne, der zu dem Anzug passte. Doch das war es nicht, was sie nach Luft schnappen ließ.
    Das Braun seiner Augen war es. Oder waren es die dunklen Haare, die hochstanden, als er den Hut lüpfte? Die breiten Hände, der Mund, fast etwas zu voll für einen Mann? Das kantige Kinn? Irgendetwas zog sie schon in diesem ersten Moment zu ihm hin.
    «So lernen wir uns also kennen. Audrey.» Winzige Fältchen um die Augen, ein offenes Lächeln. Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich, sie hatte ihn sich größer gedacht, aber sie waren auf Augenhöhe, weil sie die unerträglich warmen Schnürstiefel mit Absatz

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