Am Fuß des träumenden Berges
daheim wirst du auch nichts dazu sagen.»
Damals hatte Audrey lange darüber nachgedacht, warum ihre Mutter so genau wusste, wie man sich in diesen Situationen verhielt. Warum sie ihrer Tochter das richtige Benehmen einbläute. In den folgenden Wochen ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie ihren Vater argwöhnisch beobachtete. Die Vorstellung, er gehe nicht nur aus dem Haus, um sich um die Mitglieder seiner Gemeinde zu kümmern, sondern weil er womöglich irgendwo im Ort eine andere Frau besuchte, war ihr unmöglich erschienen. Und dann doch wieder nicht.
Dass niemand darüber sprach und es übersah, gehörte wohl zum Spiel, hatte Audrey schließlich gedacht. Und sie hatte sich diese Lektion zu Herzen genommen.
Wenn Matthew mit Renata verschwunden war, ging es Audrey vielleicht etwas an, aber sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Auch wenn die weiße Gesellschaft in Britisch-Ostafrika in vielen Belangen ganz anders war als daheim in England – in dieser Hinsicht war sie gleich.
Aber eine Frage blieb: warum sie? Warum hatte Matthew sie gewählt, seine Entscheidung auf ein paar Briefe gegründet, obwohl es in Ostafrika eine Handvoll junger, unverheirateter Frauen gab? Warum hatte er nicht Renata genommen?
Sie wusste es nicht.
Nur eins wusste sie: Fort von hier wollte sie jetzt nicht mehr.
Also bewahrte sie Haltung.
Er kam erst eine Stunde später zurück. Diese Stunde hatte Audrey genügt, um Babette und Benedict in ihr Herz zu schließen. Das Geschwisterpaar war unzertrennlich, ihre Wortgefechte herzerfrischend und die Wärme, mit der sie Audrey aufnahmen und sofort als Dritte im Bunde akzeptierten, machte sie zusammen mit dem Champagner ganz schwindelig vor Glück.
Das Fest wurde ausgelassener, lauter. Die älteren Gäste verabschiedeten sich bald oder zogen sich in den Salon und das Raucherzimmer zurück. Das junge Volk blieb, und das Lachen hob sich empor zu den hohen Decken des Gouverneurshauses. Als Matthew zurückkam, entdeckte Audrey ihn sofort, er stand in der Tür, als wüsste er nicht, ob er hierhergehörte. Sie winkte ihm, und er lächelte verhalten. Ehe er sich vom Türrahmen abstieß, tauchte Renata hinter ihm auf, legte die Hand auf seinen Ärmel und flüsterte ihm etwas zu.
Er blickte unverwandt zu Audrey herüber. Acht, zehn Meter trennten sie, und doch fühlte sie sich in diesem Moment weiter entfernt von ihm als noch vor Monaten während ihres Briefwechsels. Sie musste nicht mehr wissen, ihr genügte Renatas Hand auf Matthews Ärmel, ihr Mund so dicht an seinem Ohr.
Audrey wandte sich etwas steif ab. Haltung bewahren.
«Was sagst du?» Babette musterte sie fragend.
«Ach, nichts.» Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie über sich selbst lachen, leerte das Glas Champagner und winkte einem Boy. Matthew hatte also eine Geliebte. Na und? Er würde sie heiraten, und nur sie.
Trotzdem tat es weh. Matthew kam und legte ihr die Hand auf den Rücken. Wir sind nicht verheiratet, wollte sie ihn anfahren, lass deine Finger von mir, ich will nach Hause!
Aber sie schwieg. Sie konnte nicht zurück nach Hause. Dort erwartete sie nichts. Hier hatte sie wenigstens die schwache Hoffnung auf Zukunft.
Sie drängte ihn in eine Ecke des großen Salons. «Wir müssen reden, Matthew.»
So war sie schon immer gewesen. Selbstbestimmt, beinahe herrisch hatte Renata immer nur gefordert, wenn sie etwas wollte. Und meistens hatte sie es auch bekommen.
Nur ihn, ihn bekam sie einfach nicht, sosehr sie sich auch darum bemühte. Sie war ein Dickkopf mit ihren dreiundzwanzig Jahren und hatte ihren Eltern abgetrotzt, allein in Nairobi leben zu dürfen. Ursprünglich stammte sie aus Durban, aber vermutlich war dort etwas vorgefallen, das es ihr unmöglich machte, länger dort zu bleiben. Matthew vermutete, dass ein Mann sie so nachhaltig enttäuscht hatte, dass sie jetzt ihre eigene Art hatte, Rache an den Männern zu üben.
Sie hatte ihn letztes Jahr auf The Brashy besucht und war wochenlang geblieben. Einmal hatte sie sogar versucht, ihn zu verführen – mit mäßigem Erfolg.
Am darauf folgenden Tag hatte er den ersten Brief von Audrey erhalten und sich nach wenigen Zeilen schon unsterblich in sie verliebt. Nachdem er ihr leibhaftig begegnet war, glaubte er, dass es Schicksal sein musste.
Aber Renata gab nicht auf. Sie spürte, dass ihre letzte Chance verging. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie ihm auflauern würde, doch die Heftigkeit, mit der sie sich jetzt auf ihn stürzte,
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