Am Fuß des träumenden Berges
hatten Pferdekarren dabei, und die Gäule ließen die Köpfe hängen und waren mit einer rötlichen Staubschicht überzogen. Wie alles hier.
«Wieso?»
«Es ist so klein.» Sie hatte sich unter der Hauptstadt des Protektorats Britisch-Ostafrikas etwas anderes vorgestellt. Eine pulsierende Metropole, ein London der Savanne, wo Hunderte Reisende Tag für Tag eintrafen, wo Tausende Siedler sich in dem Büro für die Landzuweisung drängten und sich die Waren zum Weitertransport nach Mombasa am Bahnhof in riesigen Lagerhäusern stapelten.
«Nairobi gibt es erst seit 1899 . Es ist also eine ganz junge Stadt. Aber sie wächst schnell. Glaub mir, schon bald wird sich Ostafrika nicht mehr vor Siedlern retten können.» Er lächelte aufmunternd. «Ich gebe aber zu, dass man hier schon bald die meisten Leute kennt. Vor allem, wenn man wie wir heute Abend im Haus des Gouverneurs eingeladen ist.»
Audrey riss die Augen auf. «Wir sind eingeladen?»
«Habe ich dir das nicht erzählt? Er gibt heute Abend ein Fest.» Matthew pfiff zwei Jungs heran, die auf nackten Füßen herbeigesprungen kamen. Ein dritter zog das Pony vor seinem Kastenwagen am Zügel hinter sich her. «Sir Percy Girouard wird sich freuen, deine Bekanntschaft zu machen. Und die von Onkel Reggie und Tante Rose sicher auch.»
Vom Bahnhof kamen in einer Reihe ein halbes Dutzend Negerjungen angelaufen. Sie hielten ameisengleich und in schnurgerader Linie auf den Kastenwagen zu. Sie brachen schier zusammen unter den Schrankkoffern, waren aber flink unterwegs, und es dauerte keine drei Minuten, bis alles Gepäck sicher auf der Ladefläche verstaut war. Matthew entlohnte die Kinder – denn nichts anderes waren es, Kinder! – mit ein paar Silberrupien. Dann half er erst Tante Rose und danach Onkel Reggie auf die hintere Bank, die auf den Kastenwagen montiert war.
«Danke, ich schaff das allein.» Audrey raffte mit einer Hand den Rock, hielt sich mit der anderen an der Rückenlehne des Kutschbocks fest und kletterte auf die hintere Sitzbank neben Tante Rose. Matthew nickte zufrieden und setzte sich neben den Jungen auf den Kutschbock.
Noch ein Kind, dachte Audrey. Arbeiteten denn hier nur die Kinder?
Mit einem hatte Matthew recht: Nairobi war eine lebendige Stadt. Schwarze Frauen liefen mit Bündeln oder Schüsseln auf dem Kopf über die Straße, ohne nach rechts und links zu schauen, und wenn ein Pferdefuhrwerk vorbeiratterte, hoben sie die Hand und riefen dem Kutscher ihr herzliches «Jambo!» hinterher. Kinder liefen in Scharen hinter den Frauen her, und Männer stolzierten herum, als gehörte ihnen die Welt – und das betraf die Weißen wie die Schwarzen.
Audrey staunte. Sie hatte es sich nicht so vorgestellt. So … ja, tatsächlich lebendig. Nur wenige Weiße waren unterwegs, zumeist sah sie Schwarze und Inder mit ihren farbenfrohen Turbanen. Nairobi war klein, viel kleiner als Mombasa, und doch hatte diese Stadt etwas, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Matthew drehte sich halb zu ihr um. «Es ist die Luft», erklärte er.
Als wüsste er, was sie dachte.
Audrey lächelte. Danke, dachte sie.
Danke, dass du mich ohne Worte verstehst.
Sie kamen für die nächsten beiden Nächte im Haus eines Händlers unter, der im Süden Nairobis lebte. Das Haus war ein einstöckiger Bungalow, der im Laufe der letzten acht Jahre immer wieder erweitert worden war, wie der Mann stolz erzählte. Er handelte mit Tee, Kaffee, Flachs – «mit allem, was dieses Land uns zu bieten hat».
Timothy Ricket war etwa fünfzig Jahre alt und vierschrötig. Sein Lachen war so dröhnend, dass Tante Rose nervös kicherte und Reggies Mundwinkel nach unten wanderten. Er mochte es nicht, wenn jemand anderes ihn überstrahlte. Und Tim Ricket war ein Mann, der sofort im Mittelpunkt stand.
Er hatte ein offenes Gesicht und dunkle, dichte Haare. Er schlug Matthew auf die Schulter, küsste Tante Rose und Audrey die Hand und packte Reggies Hand so fest, dass dieser schmerzlich das Gesicht verzog. Dabei hörte er nicht auf zu reden und betonte, dass Matthew und er sich dringend auch über Geschäftliches unterhalten müssten, nicht dass sein Freund die nächste Teeernte wieder an einen anderen Händler verscherbelte.
Matthew lachte gutmütig.
Ein Diener brachte Audrey zu ihrem Zimmer.
Die Zimmer waren zweckmäßig und schlicht eingerichtet, und auch hier gab es ein halbes Dutzend halbwüchsige Jungen, die sich am Gepäck zu schaffen machten. Als Audrey in ihr Zimmer kam, standen
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