Am Fuß des träumenden Berges
sie aber genauso interessierten. Großzügig gewährte sie Babette das Erstleserecht für eine wunderschöne Ausgabe von «Sturmhöhe», und Benedict, den sie aufforderte, sich ebenfalls ein Buch auszusuchen, entschied sich nach langem Zögern für Gedichte von Walt Whitman.
«Liest du gerne Gedichte?», fragte Audrey ihn, und er zuckte mit den Schultern.
Er war eher schweigsam, dieser Benedict. Trotzdem mochte sie ihn. Vielleicht, weil er mit Babette kam oder weil Babette mit ihm so … vollständig wirkte.
«Ach, er beschwert sich den Kopf immer mit so traurigen Gedanken.» Babette beugte sich zu Benedict und wuschelte ihm durch die Haare. Er verzog das Gesicht, ganz leicht nur, und es ähnelte eher einem scheuen Lächeln. Nicht finster, fast … glücklich.
Er schien seine Schwester sehr lieb zu haben.
«Wenn du Gedichte magst, musst du unbedingt meine Freundin Fanny kennenlernen. Sie ist sehr belesen und liebt Gedichte und Balladen.»
«Sie hat einen guten Geschmack», bemerkte Benedict.
«Er hat kein Interesse an Frauen.»
«So hab ich das gar nicht gemeint. Ich dachte an einen Austausch zwischen Gleichgesinnten.»
«Ich sagte doch, er interessiert sich nicht für Frauen.»
Babette wirkte beinahe erbost, und sie blätterte mit so viel Verve in dem Buch auf ihrem Schoß, dass eine Seite halb herausriss. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund. «Das tut mir leid», flüsterte sie.
«Ist nicht schlimm», behauptete Audrey. Aber sie bezweifelte, ob es eine so gute Idee war, die ersten Bücher schon zu verleihen, bevor sie sie gelesen hatte. Wer wusste schon, in welchem Zustand sie sie zurückbekam?
Aber bevor sie diesen dummen Gedanken zu Ende denken konnte – denn er war dumm, jawohl! –, hörte sie draußen das Bellen der Hunde und Rufen der Männer. «Matthew kommt heim.» Erleichtert sprang sie auf und lief nach draußen.
Er kam im Galopp angeritten, sprang aus dem Sattel und eilte auf sie zu. Audrey fuhr der Schreck in die Glieder. Er sah so wild aus, beinahe wütend – war etwas passiert? Hatte sie etwas getan, was seinen Unmut hätte erregen können?
Doch er packte sie nur und riss sie an sich. Sein Mund lag gierig auf ihrem, seine Zunge drängte sich zwischen ihre Lippen, und sie verschluckte sich fast daran, weil es so überraschend kam.
Aber noch viel schlimmer war, dass sein Atem, der nach den Zigaretten roch, die er so gerne rauchte, ihr sofort wieder Übelkeit bereitete. Audrey schüttelte heftig den Kopf, riss die Augen auf und versuchte, sich von ihm loszumachen.
«Nicht!», konnte sie gerade noch rufen, ehe sie sich von ihm löste, einen Schritt beiseite tat und sich auf den Rasen vor dem Haus übergab.
Sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen, und das wenige hatte sie bereits dem Sektkübel überantwortet. Matthews Kuss brachte nur ein wenig übelriechende Flüssigkeit hervor, die sie erneut würgen ließ.
Sie blieb vornübergebeugt stehen und wagte es nicht, sich wieder aufzurichten. Mein Gott, ist das peinlich, dachte sie. Und sie hatte gedacht, schlimmer als der Sektkübel könne es nicht werden.
«Audrey?» Matthew stand mit hängenden Schultern neben ihr. «Liebes, ich …»
Welcher Mann wäre nicht verwirrt, wenn seine Ehefrau den abendlichen Begrüßungskuss im wahrsten Wortsinn zum Kotzen fand?
«Es geht schon wieder», versicherte sie ihm. Blind tastete sie nach seiner Hand. «Mach dir bitte keine Sorgen.»
«Wie soll ich mir keine Sorgen machen, wenn du dich übergibst?» Er zog sie zu sich heran und drückte ihr sein Taschentuch in die Hand. Dankbar presste sie es sich auf den Mund. «Soll ich nach einem Arzt schicken? Es würde einen halben Tag dauern, bis er hier ist.»
«Das wird nicht nötig sein», erwiderte sie fest.
Sie wusste ja, was mit ihr los war. Aber es war noch zu früh, um es aller Welt mitzuteilen.
«Wir haben Besuch», sagte sie stattdessen. «Die Tuttlingtons sind da und haben die bestellten Bücher aus Nairobi mitgebracht. Du hast mir ja gar nicht gesagt, dass du alle bestellt hast.»
«Soll das ein Vorwurf sein?» Behutsam umfasste er ihr Kinn und küsste sie auf den Mund. «Ich darf meine Frau doch so viel verwöhnen, wie ich will, oder?»
«Von mir wirst du keine Klagen hören.» Sie lächelte schwach, ließ sich von ihm in den Arm nehmen und legte den Kopf an seine Brust.
«Du hast so viel für mich aufgegeben», sagte er leise und drückte seine Lippen an ihre Schläfe. «Deine Familie, dein Zuhause … Und jetzt sind
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