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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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leise, und eine erhob die Stimme.
    «Warum singen sie?», fragte Audrey, doch Wakiurus Antwort ging in einer erneuten Schmerzwelle unter.
    «Sie singen, um dein Kind in diese Welt zu locken.» Wakiuru führte Audrey aus dem Schlafzimmer. «Wir gehen ein bisschen spazieren», beschloss sie. «Dann geht’s schneller.»
    Schneller, ja, schneller. Aber was, wenn sie es vielleicht nicht rechtzeitig zurück ins Schlafzimmer und ins Bett schaffte, bevor das Kind kam? Doch sie sagte nichts. Sie musste sich auf diese Frauen verlassen, sie hatten schon so viele Kinder geboren.
    Sie war immer noch im Nachthemd, und es war ihr peinlich, vor die Haustür zu gehen. Darum wanderten sie langsam und stetig durch Wohnzimmer und Arbeitszimmer. Speisezimmer, Schlafzimmer und den Gästeflügel. Immer wieder musste Audrey stehen bleiben, wenn eine Wehe sie überrollte. «Das ist gut», sagte Wakiuru ermutigend. «Du machst das gut, Memsahib. Dein Kind wird sich bestimmt gerne in diese Welt begeben.»
    Ja, aber warum musste das mit so großen Schmerzen verbunden sein?, fragte Audrey sich. Wenn sie ein paarmal ihre Runden durchs Haus gedreht hatte, bat Wakiuru sie ins Schlafzimmer und untersuchte sie. Und jedes Mal nickte sie zufrieden. Die Geburt schien einen guten Verlauf zu nehmen.
    Trotzdem waren die Schmerzen mehr, als Audrey ertragen konnte. Sie schrie. Sie weinte. Sobald sie lauter wurde, verstärkten auch die drei Frauen ihren Gesang. Vielleicht waren es die Lieder, die Audrey beruhigten, vielleicht Wakiurus Hand auf ihrem Rücken. Doch irgendwann gab sie nach. Sie ergab sich in das Schicksal, in den Schmerz und in diese Geburt. Wehren konnte sie sich nicht, denn was passieren musste, würde eben passieren.
    Es dauerte fünf Stunden, bis Wakiuru bei der Untersuchung zufrieden nickte. «Jetzt bist du so weit», erklärte sie. «Halt dich am Bett fest, und dann darfst du pressen.»
    «Ich soll mein Kind im Stehen zur Welt bringen?»
    «Wie es dir lieber ist», beschwichtigte Wakiuru sie. «Aber vielen Frauen fällt es im Stehen leichter.»
    Audrey hatte bisher gedacht, es sei am leichtesten, wenn sie sich hinlegte – konnte das Kind dann nicht einfach so aus ihr herausgleiten? Sie wollte lieber wieder ins Bett. Doch sobald sie lag, stieg der Schmerz in ihrem Rückgrat bis zum Kopf auf, und ihr wurde schwarz vor Augen. Sie wuchtete sich wieder aus dem Bett. Wakiuru legte ihre Hände auf den Bettpfosten und befahl ihr, die Beine leicht zu spreizen.
    «Geh in die Hocke, wenn es dann leichter ist», riet sie Audrey.
    Die anderen Frauen rückten näher. Audrey sah ihre freundlichen, schwarzen Gesichter und schluchzte auf. Es war so unerträglich, so unwirklich, und es tat so weh! Sie bestand jetzt nur noch aus diesem Schmerz, der nach unten trieb und sie schier zerriss.
    «Du musst es schon selbst auf die Welt bringen!», rief Wakiuru. «Allein wird dein Kind es nicht schaffen.»
    Dieser Satz war es, der Audrey half. Sie spürte Wakiurus Hände zwischen ihren Beinen, und dann war da noch etwas – Wakiuru berührte sie, aber nicht sie, sondern … das Kind.
    Eine letzte Anstrengung. Sie schrie, und dann war das Kind heraus, und sie wusste, als würde sie selbst so umfangen, dass Wakiuru das Neugeborene mit den Händen umfing und so davor bewahrte, auf den Boden zu fallen.
    «Sieh nur, da ist er. So ein strammer Sohn, da wird der Bwana aber stolz sein!»
    Wakiuru hielt Audrey das blutige und schmierige, kleine Wesen hin, und Audrey streichelte über die dichten, dunklen Haare. «Mein Gott», flüsterte sie ergriffen. «Mein Gott, es ist ein Junge.»
    «Setz dich erstmal hin.» Wakiuru half ihr, sich mit dem Rücken gegen den Bettposten gelehnt hinzusetzen. Sie raffte Audreys Nachthemd, das inzwischen völlig verschmutzt war, doch das kümmerte sie nicht. Eine der anderen Frauen tauchte direkt neben ihr auf und wickelte den Jungen in ein Handtuch und reichte ihn Audrey, die ihn nahm. Sie weinte. Vor Freude, vor Erleichterung und weil die Schmerzen jetzt vorbei waren. Ihr Zeigefinger strich andächtig über die Stirn, die sich in winzige Falten zog.
    «Noch einmal pressen, dann hast du’s hinter dir.»
    Die Nachgeburt kam. Und dann war’s vorbei, und Audrey hockte auf dem Schlafzimmerboden und staunte über das kleine Wesen, das sich in die Welt und in ihr Leben gedrängt hatte. Nur am Rande bemerkte sie, wie Wakiuru die Plazenta in eine Schüssel gab, sie abdeckte und die Nabelschnur abschnitt, ehe sie die Schüssel beiseite

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