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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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stellte.
    «Leg ihn ruhig schon an.»
    Wakiuru ermunterte Audrey, und sie öffnete ihr Nachthemd. Der Junge suchte schmatzend und eifrig nach ihrer Brust und fand sie. Fasziniert beobachtete Audrey, wie dieses kleine Wesen, das gestern noch gar nicht auf der Welt gewesen war, das noch keine zwei Stunden alt war, sich mit ihr auf eine ganz neue Art verband.
    «Ich geh, die Nachgeburt begraben. Danach waschen wir dich und deinen Knaben. Du hast das gut gemacht, Memsahib. Ging recht schnell bei dir.» Wakiuru nickte zufrieden. «Bist zum Kindergebären geschaffen.»
    «Danke», flüsterte Audrey. Sie war ganz ergriffen von diesem kleinen Wesen. Zehn winzige Fingerchen, zehn zarte Zehen und Augenlider, die fast durchsichtig wirkten. Wimpern, so zart und dunkel, dass sie nicht glauben konnte, dass die Natur etwas so Perfektes erschaffen konnte. Eine Nase, so klein, dass sie sich fragte, ob damit überhaupt etwas zu riechen war. Offensichtlich schon, denn zielsicher schnaufend fand ihr Sohn ihre Brust und saugte daran.
    Sie schloss erschöpft die Augen.
    «Dein Vater wird stolz auf uns sein», flüsterte sie.
     
    Zwei Stunden später kam Matthew zurück, Dr. Morton im Schlepptau. Wakiuru saß in der Zimmerecke auf einem Schaukelstuhl, doch als Dr. Morton ins Schlafzimmer kam, sprang sie auf und wich zurück. Es wurde bereits dunkel, und es schien, als ob die Kikuyufrau mit den Schatten verschmelze.
    «Es ist ein Junge», begrüßte Audrey ihren Mann. Sie zeigte auf den Weidenkorb, der neben ihr auf dem Bett stand. Matthew starrte erst sie an, dann beugte er sich über den Korb und betrachtete seinen Sohn, der so winzig klein und zart war. Seine Hand schwebte über der Brust des Kleinen, als traute er sich nicht, ihn zu berühren.
    «Du kannst ihn gerne streicheln», sagte sie leise. Dr. Morton trat nun vor. Er weckte den Säugling, was dieser mit lautem Protestgeheul quittierte, holte ihn aus der Decke, in die Wariuku ihn stramm eingewickelt hatte, und untersuchte ihn.
    «Ein gesundes Kerlchen», stellte der Doktor zufrieden fest. «Sie sollten ihn nicht so fest einwickeln, das behindert sein Wachstum.»
    Audrey hob den Jungen aus seinem Korb und wiegte ihn, bis er sich beruhigt hatte.
    «Wo ist die Nachgeburt? Ich muss sie auf Vollständigkeit untersuchen.» Jetzt war Dr. Morton in seinem Element, und er schaute sich suchend um.
    Audrey hatte keine Ahnung, wo die Nachgeburt war. «Wakiuru …»
    Die Kikuyufrau trat aus dem Schatten. «Ich habe sie begraben», erklärte sie würdevoll. Ihre dunklen Augen blitzten, und sie hob das Kinn ganz leicht, als wollte sie dem weißen Arzt trotzen.
    «Begraben?» Entsetzt starrte Dr. Morton sie an. «Du kannst doch nicht die Plazenta einer weißen Frau nach den dreckigen Ritualen von euch Negern im Busch verscharren …»
    «Es ist kein dreckiges Ritual. Sie liegt hinter dem Haus im Beet.»
    Matthew richtete sich auf. Er stand ein wenig ratlos zwischen dem Arzt und der Kikuyufrau und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Sein Verstand riet ihm wohl, sich auf die Seite des Arztes zu schlagen, der immerhin in England studiert hatte und wusste, wovon er sprach. Doch zugleich war er Wakiuru unendlich dankbar, weil sie seinem Sohn auf die Welt geholfen hatte.
    Audrey erriet sein Dilemma, denn sie empfand ähnlich.
    «Das ist schon in Ordnung», bemerkte sie betont munter. «Wakiuru hat sie untersucht. Alles dran.» Sie lächelte Dr. Morton an.
    Doch der hörte gar nicht hin. Schnaubend baute er sich vor der Kikuyufrau auf. «Du wirst sie wieder ausgraben», grollte er.
    «Das wäre nicht klug», erwiderte Wakiuru. «Dieses Kind ist heute in diese Welt übergewechselt, und indem ich die Nachgeburt neben diesem Haus begrub, wird der Junge immer wissen, wo seine Heimat ist. Außerdem sind wir es den Ahnen schuldig. Wir müssen ihnen etwas zurückgeben.»
    «Was würden Sie denn damit machen, wenn Sie dieses … Ding hier hätten?» Das Thema war Matthew sichtlich unangenehm. Audrey konnte es ihm nicht verdenken. Alles, was mit der Geburt zusammenhing, musste für Männer ein großes Mysterium sein, wenn sie nicht gerade ausgebildete Ärzte waren.
    «Nun, ich würde sie auf Vollständigkeit überprüfen, und anschließend müssten wir sie natürlich verbrennen oder auf den Müll werfen. Verbrennen ist allerdings besser, um keine wilden Tiere anzulocken.»
    Audrey spürte, wie Wakiuru neben ihr empört nach Luft schnappte. Eine Nachgeburt zu verbrennen schien für einen Kikuyu

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