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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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waren die Abende und die Nächte. Sobald die Kinder schliefen, begaben sich auch die Schwarzen zur Ruhe, und wenn das Klappern von Geschirr aus der Küche verklungen war, trennte sie nichts mehr von diesem abgrundtiefen Gefühl der Einsamkeit.
    Meist las sie bis spät in der Nacht gegen die Müdigkeit an, sobald alle Korrespondenz erledigt war. An diesem Abend aber hatte sie keine Lust, auf Matthews letzten Brief zu antworten. Was sollte sie ihm erzählen? Dass sie Kinyua auf die Veranda eingeladen hatte? Sie wusste, Matthew hatte jahrelang versucht, Kinyua dazu zu überreden, und bisher war es ihm nie gelungen. Wie er es wohl aufnahm, wenn sie ihm erzählte, dass es ihr endlich gelungen war?
    Bestimmt nicht gut. Er könnte die falschen Schlüsse ziehen.
    Andererseits hatte er auch bei Benjamin keine falschen Schlüsse gezogen, obwohl er dazu jedes Recht gehabt hatte.
    Es war schon kurz nach elf, und sie war immer noch nicht müde. Audrey klappte das Buch zu und stieg wieder aus dem Bett. Irgendwas musste sie tun, damit dieses Gefühl der Einsamkeit endlich von ihr wich.
    Sie ging ins Wohnzimmer.
    Die vier Jahre, in denen sie nun auf der Plantage lebte, hatten ihre Spuren im Haus hinterlassen. Die abgestoßenen, alten und staubigen Sessel waren neuen Sitzmöbeln gewichen, es gab Bücherregale und Beistelltischchen. In den letzten Jahren hatte sie jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit ergab, Porzellan und Kristall aus Europa kommen lassen.
    Der Teppich, dachte sie. Den Teppich müsste ich unbedingt neu machen lassen.
    Aber das musste bis nach dem Krieg warten, fürchtete sie.
    Sie hatte dem Haus ihren Stempel aufgedrückt.
    Barfuß lief sie ins angrenzende Arbeitszimmer. Matthews Reich. Der Schreibtisch, wuchtig und uralt, war noch derselbe wie früher, und die zwei halbhohen Regale dahinter waren mit seinen Sachen vollgestopft.
    Eine kleine Holzkiste, Mappen und Stapel von Zeitschriften. Seine Sachen. Sie hatte sich nie dafür interessiert, und sie fand auch, in einer Ehe musste der eine nicht alles vom anderen wissen, solange nur das Vertrauen da war. Und Matthew hatte ihr mehr als einmal gezeigt, wie groß sein Vertrauen zu ihr war.
    Aber inzwischen war er seit drei Monaten fort. Ein bisschen war es, als sei er für immer aus ihrem Leben verschwunden, und was ihr blieb, waren seine Habseligkeiten.
    Sie stellte die Kiste auf den Schreibtisch und setzte sich auf seinen Stuhl. Langsam drehte sie sich darauf hin und her, ließ die Finger über den Deckel der Kiste gleiten. Kein Schloss, nur ein Schnappverschluss.
    Was wohl darin war? Vielleicht Briefe und Fotografien, ein Teil seiner Vergangenheit.
    Sie öffnete die Kiste. Schon während sie es tat, fühlte Audrey sich schrecklich schlecht, weil das
seine
Sachen waren. Es ging sie nichts an. Wenn er gewollt hätte, dass sie diese Dinge sah, hätte er sie ihr sicher gezeigt, oder?
    Obenauf lag ein Foto. Es zeigte Matthew zusammen mit einer jungen Frau, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Seine Schwester Celia, die inzwischen in Edinburgh lebte. Audrey hatte sie nicht kennenlernen dürfen. Sie kannte nur die Briefe, die Matthew regelmäßig von ihr bekam und Audrey zu lesen gab. Sie selbst korrespondierte nicht mit Celia, und sie fragte sich unwillkürlich, warum das wohl so war. Wäre es nicht natürlich, wenn die Schwägerinnen sich schrieben? Verband sie als Mütter nicht ebenso viel wie Matthew und Celia als Geschwister?
    Darunter lag ein zweites Foto. Es zeigte Matthew neben einem Mann und einer Frau. Er war auf diesem Foto deutlich jünger; achtzehn oder neunzehn, schätzte Audrey. Sie studierte die Gesichter der anderen beiden. Sie waren in den Vierzigern, der Mann vielleicht etwas älter. Er hatte gütige Augen, eine gerade Nase – genau wie Matthew – und war etwas kleiner als die Frau. Dunkle Haare hatten beide, und alle drei strahlten so glücklich, dass es Audrey ins Herz schnitt. Sie brauchte das Foto nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es sich um eines der letzten Fotos handelte, das von ihm und seinen Eltern aufgenommen worden war.
    Dolomiti, im Juni 1903
stand auf der Rückseite. Und darunter, etwas kleiner:
Pa, Maman und Matti.
    Die Handschrift kannte sie von Celias Briefen.
    Darunter war nichts mehr, das irgendwie geheimnisvoll wirkte: Celias Briefe, sortiert nach Datum. Der neuste lag obenauf; er war kurz nach Kriegsausbruch gekommen. Audrey runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Matthew ihr zuletzt einen Brief von Celia

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