Am Fuß des träumenden Berges
gleichgültig. «Sie hat wenig Glück gehabt im Leben.»
«War sie das Mädchen, das unser Missionar mitgenommen hat?»
Kinyuas Miene verfinsterte sich, und hastig fügte sie hinzu: «Es geht mich ja gar nichts an. Hauptsache ist, dass sie uns helfen kann.»
Jäh wurde ihr bewusst, dass sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht hatte, wie oder wo Kinyua lebte. Sie wusste, er wohnte im Dorf, er hatte drei Frauen, von denen zwei kürzlich verstorben waren, und die dritte war fast noch ein Kind. Das hatte er ihr erzählt. Aber Mukamis Blicke … Ja, sie wusste nun auch, dass Mukami für ihn sorgte auf ihre Art oder dass sie es zumindest gern tun würde.
Was störte sie an dem Gedanken nur so sehr? Warum war es ihr nicht egal, mit wem er seine Zeit verbrachte, wenn er nicht bei ihr war?
Er war ihr Schutz. Wenn die Kikuyu sich gegen sie wandten, war er immer noch ein Anführer des Stammes und konnte das Schlimmste verhindern.
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22 . Kapitel
Es war schwer. Wenn Audrey nach einem anstrengenden Tag auf der Plantage zum Haus zurückkehrte, warteten zwar ein warmes Abendessen auf sie und ein sauberes Haus, doch ebenso wartete ein quengeliger Dreijähriger, der keine Lust hatte, den ganzen Tag ohne die Mutter auskommen zu müssen, und der sich abends kaum zur Ruhe bringen ließ, obwohl er schon fast im Sitzen einschlief.
Und die Geschäftsbücher, Kontenlisten, Bestellungen und Briefe warteten: von ihrem Bruder aus dem französischen Schützengraben und von den Eltern aus Southwold, die sich besorgt zeigten über alles, von Matthew aus dem Süden, der nicht viel schrieb, außer, dass er sie vermisste. Von Fanny in Nairobi, die jammerte, weil Benedicts Gesellschaft ihr inzwischen unerträglich wurde, zumal er mit so ziemlich jeder anderen Frau, die in seinem Haus Unterschlupf gefunden hatte, schäkerte. Von Babette, die sich über Fanny beklagte und anklingen ließ, dass die anderen Frauen Fanny das Leben schwer machten, weil sie eine halbe Deutsche war. Von Rose kamen nur selten Briefe aus England. Matthews Tante schwieg den Krieg tot; für sie schien er nicht zu existieren.
Audrey beantwortete all diese Briefe und versuchte, so heiter zu klingen wie möglich. Ihrem Bruder versprach sie, der Krieg sei bald zu Ende. Den Eltern versicherte sie, dass es ihr gut gehe und dass sie allein zurechtkomme, obwohl Matthew ihr fehlte (die einzige Wahrheit, die sie zuließ). Sie berichtete Matthew von den Ereignissen auf der Plantage, spielte Katastrophen herunter und ließ kleine Erfolge größer erscheinen, als sie waren. Sie ermutigte Fanny, sich gegen diese albernen Weiber aufzulehnen oder, noch besser: gleich nach The Brashy zu kommen. Und Babette schließlich: Da wusste sie nicht, was sie Positives schreiben sollte. Also schrieb sie: «Ich habe mir schon gedacht, dass ihr irgendwann eine andere findet, der ihr etwas vorwerfen könnt, wofür sie so gar nichts kann.»
Danach kamen von Babette keine Briefe mehr.
Im November wurden die Nachrichten insgesamt spärlicher, und sie fühlte sich einsamer denn je, obwohl sie ständig von Menschen umgeben war. Es fühlte sich nicht so schlimm an wie die letzten Monate im Haus ihrer Eltern. Aber schlimm genug, dass sie versuchte, daran irgendwas zu ändern.
«Setz dich zu mir auf die Veranda», forderte sie daher Kinyua auf, als er das nächste Mal kam. Er schüttelte entschieden den Kopf. «Das ist nicht recht, Memsahib», sagte er.
«Recht ist, was ich für richtig halte. Du bist meine rechte Hand, Kinyua. Ohne dich könnte ich das alles doch gar nicht bewältigen.»
Was nicht mal gelogen war. Ohne ihn hätte sie längst aufgegeben und wäre auch in die Stadt geflohen.
Er stand vor der Veranda, unter dem Arm eine Mappe, in der er inzwischen die Zettel sammelte, auf denen er all das notierte, was er ihr vorlegen wollte. Er merkte sich alles, was er sah. Als er das erste Mal mit der Mappe zu ihr kam, hatte sie sich ein Lachen verbeißen müssen. Dieser amtliche Auftritt passte so gar nicht zu ihm. Und es hatte gedauert, bis sie dahinterkam, wieso er sich mit Notizen abgab, obwohl er alles im Kopf hatte. Bis sie ihn eines Tages dabei ertappte, wie er zufrieden lächelte, weil sie seine schöne Handschrift lobte. Er war stolz auf diese «weißen» Fähigkeiten, und er wollte sie ihr zeigen.
Er versuchte ein bisschen, wie sie zu sein, ohne sich aufzugeben. Und genau das tat er, wenn er ihr Notizen vorlegte, statt aus dem Gedächtnis vorzutragen, was getan
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