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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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werden musste. Überall im Haus flogen inzwischen diese Zettelchen herum, Chris bemalte ihre Rückseiten, und Audrey stellte sich vor, wie Kinyua abends am Feuer saß und konzentriert aufschrieb, was wichtig war.
    «War es denn recht, dass ich dir lesen und schreiben beigebracht habe?»
    «Das wollte ich lernen.» Er lächelte. Aber etwas Unsicheres hatte sich in den letzten Monaten seiner bemächtigt. Der stolze Krieger und Anführer seines Stammes hatte sich verändert. Geblieben war ein Mann, der seinen Platz in der Welt erst wiederfinden musste.
    «Bitte komm her und setz dich», sagte Audrey. «Ich habe sonst das Gefühl, als wären wir nicht ebenbürtig.»
    «Das sind wir auch nicht, Memsahib. Du bist eine Mzungu. Ich bin ein Kikuyu.»
    Sie runzelte die Stirn. «Das gefällt mir nicht», erwiderte sie scharf.
    «Es ist die Wahrheit», erwiderte er sanft.
    Trotzdem machte er einen Schritt nach vorne. Seit er regelmäßig für sie arbeitete und sie ihm dafür Lohn zahlte, hatte er sich bei Mr. Noori Stoff gekauft und von Mr. Nooris Tochter westliche Kleidung nähen lassen: eine Hose, ein Hemd. Außerdem trug er Schuhe.
    Sie musste zugeben, dass er richtig gut aussah.
    «Kamau kann dir ein Gedeck bringen. Hast du schon gefrühstückt, Kinyua?»
    Er schüttelte den Kopf. Jetzt stand er tatsächlich auf der Veranda, und sie lächelte ihm aufmunternd zu.
    Weil er nichts sagte, aber auch nicht ging, beugte sie sich wieder über die Zeitung. Sie tat so, als bemerkte sie nicht, wie er sich langsam näher schob und in den Korbstuhl gegenüber von ihrem rutschte. Erst dann schaute sie auf und lächelte.
    Wie ein wildes Tier, das man vorsichtig zähmen muss …
    Kamau trat auf die Veranda und brachte frischen Tee. Als er Kinyua in dem Korbsessel sah, erstarrte er mitten in der Bewegung, und Kinyua sprang hastig auf, als habe er sich verbrannt.
    «Bring ein zweites Gedeck für Kinyua», sagte Audrey sanft. «Er wird mit mir frühstücken.»
    Kamau gehorchte. Kinyua ließ sich wieder auf die vorderste Kante seines Sessels sinken, jederzeit zur Flucht bereit.
    Mary kam mit den beiden Kindern heraus. Chris kletterte auf seinen Stuhl, und Audrey nahm den kleinen Thomas auf den Schoß. Doch sofort wurde Chris eifersüchtig und wollte seinerseits auf Mamas Schoß. Er quengelte so lange, bis Audrey aufstand, um den Kleinen wieder zu Mary zu bringen.
    «Gib ihn mir, Memsahib.» Kinyua streckte die Hände aus. «Kinder mögen mich.» Er lächelte.
    Nur zögernd gab Audrey ihm den Kleinen. Thomas gluckste vergnügt und krallte sich in Kinyuas Hemd. Er fühlte sich sofort wohl, und der Anblick der beiden berührte etwas in Audrey.
    Kamau brachte ein Gedeck für Kinyua, frische Haferbrötchen und für Chris eine Schale Porridge, die dieser heute ohne Gezeter auslöffelte. Das Frühstück verlief friedlich, und nachdem sie gegessen hatten, holte Kinyua die Zettelchen aus der Mappe und ging sie nacheinander durch.
    «Und du solltest Mukami auch im Lesen und Schreiben unterweisen, Memsahib», schloss Kinyua. «Sie will es lernen, und ich glaube, es würde dir sehr helfen.»
    «Inwieweit würde es mir helfen?» Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht.
    «Sie kann dich bei allem unterstützen. Ich glaube, sie ist eine bessere Verwalterin als ich.»
    «Du machst deine Sache sehr gut», sagte sie zweifelnd.
    «Ja. Weil ich Mukami habe.»
    Die Art, wie er es sagte … Audrey schloss für einen winzigen Augenblick die Augen. Ja, er hatte Mukami, in mehr als einer Hinsicht. Das hatte sie inzwischen begriffen.
    Momente wie diese waren es, in denen sie Matthew schmerzlich vermisste.
    «Sie soll ab morgen dreimal die Woche abends zu mir kommen. Gib ihr deine Fibel», fügte sie ruppiger als nötig hinzu. «Ich werde sie unterrichten.»
    Sie stand auf, riss ihm Thomas aus den Armen und rief Chris zu sich, der auf dem Boden mit den Zetteln spielte.
    Kinyua stand ebenfalls auf. «Ich hoffe, ich habe dich nicht verärgert, Memsahib.»
    «Nein, hast du nicht.»
    Sie ärgerte sich über ihre Sentimentalität. Herrje! Matthew stand im Süden an der Front, und sie dachte nur daran, wie schön es wäre, endlich wieder in seinen Armen zu liegen. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass sie einen anderen Mann zum Frühstück einlud.
    Ich bin einsam, und wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch wunderlich.
    Sie lächelte traurig. Ohne sich von Kinyua zu verabschieden, verschwand sie im Haus.

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23 . Kapitel
    Schlimmer als die Tage

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