Am Grund des Sees
könnte.«
»Inwiefern?«, fragte Pellanda.
»Ich habe erfahren, dass der See jetzt noch einmal erweitert werden soll. Wegen des erhöhten Energiebedarfs, heißt es. Also frage ich mich: Und vor zwanzig Jahren?«
»Was, vor zwanzig Jahren?«
»Wieso diese riesige Staumauer? Welchen Grund gab es dafür?«
»Was ist das für eine Frage!«, stieß Vassalli hervor. »Den gleichen wie heute, oder? Energiebedarf, Fortschritt, Effizienzmaximierung.«
»Das waren die achtziger Jahre!«, sagte Pellanda mit dem Anflug eines Lächelns.
»Tja, das sind die offiziellen Begründungen«, sagte Contini. »Man brauchte mehr Strom, wollte mehr Geld … Fällt euch nicht noch was ein?«
»Noch was?«
»Was denn?«
»Komisch … ich frag mich wirklich, ob das nicht alles irgendwie zusammenhängt.«
Der Bürgermeister strich sich über die Bartstoppeln und musterte Contini nachdenklich. Vassalli indes konnte sich nicht zurückhalten.
»Du bist mir vielleicht ein schräger Vogel, Contini. Was soll denn womit zusammenhängen?«
»Der plötzliche Beschluss, den Staudamm auszubauen, die Bildung einer Antistaudamminitiative, das Verschwinden meines Vaters und Martignonis … da gibt es irgendwo einen gemeinsamen Nenner, eine Antwort auf alle Fragen.«
Pellanda runzelte die Stirn.
»Und wo, bitte, willst du die finden?«
»Hinter dem Staudamm.« Contini drückte seine Zigarette aus. »Unten auf dem Grund des Sees, wo mal die Häuser standen.«
Contini fuhr nicht gleich los, nachdem er sich von Pellanda und Vassalli verabschiedet hatte. Er ging zu seinem Auto und saß erst einmal nur da, ohne den Motor anzulassen. Er betrachtete die bewaldeten Berge, die Lichtungen vereinzelter Almwiesen, die noch Widerstand leisteten. Dann fuhr er los, zum Staudamm.
Er legte eine Aznavour-Kassette ein und suchte nach einem Lied, das seiner Stimmung entsprach. Je n’ai pas vu passer le temps . Ich auch nicht, dachte er, während er langsam die Serpentinen bergauf fuhr, ich habe auch nicht gesehen, wie die Zeit vergeht. Wo war ich bloß die ganzen Jahre?
Die Staumauer sah aus wie immer. Eine graue Platte, die den Himmel abriegelte und emporragte wie das Heck eines zwischen den Bergen verkeilten gigantischen Schiffs. Von unten betrachtet beinahe Furcht einflößend. Contini ließ das Auto stehen und machte sich zu Fuß an den Aufstieg. Nach einer Weile hielt er inne, zog seinen Mantel aus und hängte ihn sich über den Arm: Es ging steil bergauf, und ihm wurde bald warm.
Der Himmel war klar. Kein Laut war zu hören. Nur wenn hin und wieder ein Wind aufkam, verriet das rote Flattern einer Schweizerfahne neben einem der Häuser am Fuß der Staumauer, dass hier Menschen lebten. Irgendwann, während er die graue Betonwand entlangging, vernahm Contini ein mattes Brummen, das wie der Atem eines schlafenden Wesens klang. Als sei der Staudamm ein mächtiges Tier - ein Wal, der in dieser Talfurche gestrandet war.
Aber es ist nur ein Damm, dachte Contini und blieb stehen, eine Talsperre. Was sind das für Hirngespinste? Von der Straße tönte die Dreiklanghupe des Postautos herauf: a-cis-e; der unverwechselbare Ruf der Schweizer Post. Contini schnaubte und stieg weiter.
Auf der Dammkrone angelangt, stützte er sich auf das Geländer und blickte auf die vom Wind leise gekräuselte Oberfläche des Sees hinaus.
Contini starrte in die Tiefe, als könnte er die Häuser auf dem Grund sehen und ihnen das Geheimnis um seinen Vater entreißen.
Nach so vielen Jahren des Schweigens war es jetzt vielleicht wirklich an der Zeit zu handeln.
Obwohl Detektiv, sah sich Contini nicht als Mann der Tat, sondern als einen Wartenden. So viele Stunden des Beschattens, Überwachens, Spionierens, eingeschlossen in der Enge eines Autos. So viele Jahre, dahingegangen, als wäre nichts passiert. Jetzt gab es neue Verdachtsmomente.
Was steckte hinter dem Ausbau des Stausees in den Achtzigern? Wirklich nur erhöhter Strombedarf? Oder ein politischer Filz? Vielleicht noch trübere Motive? Immerhin waren zwei Männer verschwunden.
Und einer davon war sein Vater.
4
Der alte Polizist
In seiner dunkelbraunen Lederjacke, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, stand Contini am Ufer des Tresalti.
Das Wasser stand niedriger, als es dem Durchschnittspegel der Jahreszeit entsprach. Es hatte schon eine ganze Weile nicht geregnet. Contini zog einen Handschuh aus und nahm aus seiner Jackentasche drei mit Spagat verschnürte kleine Holzflöße, die er mit Korken bestückt
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