Am Grund des Sees
stopfte die Hände tief in die Taschen und rief noch einmal: »Black!«
Die nahen Talhänge, Felsen und Wald, verstärkten das Gefühl eisiger Kälte. Pellanda stampfte mit den Füßen. Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Endlich tauchte Black aus einem Gebüsch auf und kam wedelnd angetrabt.
»Wo warst du denn? Böser Hund, wohin bist du abgehauen? Jetzt bleib bei Fuß!«
Pellanda liebte seine morgendlichen Rituale. Erst der langsame Anstieg. Dann die erste Verschnaufpause vor der Agathenkapelle. An der Brücke über den Bach ließ er den Hund eine Zeit lang frei laufen. An diesem Morgen aber wollte Black nicht hören. Vielleicht witterte er Wild - oder eine läufige Hündin.
Das Plätschern und Murmeln des Bachs übertönte alle Geräusche. Hier blieb Pellanda ein paar Sekunden stehen und atmete tief ein. Er hätte ebenso gut fernab der Welt sein können, so einsam war es hier. Man sah keine Häuser, und um diese Zeit kam nie eine Menschenseele vorbei. Die Brücke war wie der letzte Rest einer versunkenen Kultur.
Black war immer noch aufgeregt. Die Nase am Boden, lief er das Ufer auf und ab. Einmal hob er den Kopf, als hörte er einen Ruf, und machte Anstalten, ins Wasser zu springen. Aber die Stimme seines Herrn hielt ihn zurück: »Black, nicht ! Komm zurück, heute wird nicht gebadet!«
Aber was war es dort drüben zwischen den Felsen, das den Hund so brennend interessierte? Vielleicht ein Aas - irgendetwas, das den Geruchssinn eines Hundes verrückt spielen ließ. Bürgermeister Pellanda seufzte: An diesem Morgen musste er auf Black aufpassen, als wäre er ein Welpe. Und er kam sich lächerlich vor, wie er hier auf der Brücke herumstand und fror.
»Black! Wir gehen jetzt!«
Es half nichts, er musste seinem Hund zeigen, wer der Herr im Haus war. Dabei war er schon nervös genug, denn es lag eine anstrengende Woche vor ihm. Die Gemeinderatssitzung stand an, er hatte einen Gesprächstermin mit einer Gruppe von Erweiterungsgegnern, was bestimmt mühsam würde, denn man musste versuchen, sie auf die Seite der Befürworter zu ziehen, bevor wieder ein endloser Rechtsstreit anfing. Pellanda vertraute zwar auf sein Talent zu vermitteln, zur Ordnung zu rufen, aber …
Apropos Ordnung. Wo war dieser verdammte Hund?
»Black! He, Black!«
Keine Reaktion. Verschwunden. Pellanda beugte sich über das Geländer und spähte zum Bach hinab. Zwischen den Felsen, wohin die Schatten des Uferbewuchses fielen, war das Wasser sehr dunkel. Direkt unter ihm mündete ein kleiner Wasserfall in einen schwarzgrünen Tümpel.
»Blöder Hund«, murmelte der Bürgermeister vor sich hin. »Was fällt dem auf einmal ein?«
Neben der Brücke führte ein Pfad zum Bach hinunter. Pellanda schnaubte. Vorsichtig, um auf dem feuchten Gras nicht auszurutschen, machte er sich an den Abstieg. Am Ufer des Bachs blieb er stehen und sah sich um. Die Feuchtigkeit drang ihm in Mark und Bein.
»Black! Hierher, Black!«
Nichts. Das Rauschen des Bachs füllte die Stille. Der Wasserfall, der in seiner immer gleichen Bewegung fast stillzustehen schien, zog Pellandas Blick an: In dem Tümpel, in dem das Wasser landete, breiteten sich konzentrische Kreise in endloser Abfolge aus. Es muss sehr tief sein, dachte der Bürgermeister, und bestimmt eisig kalt!
Er war im Begriff, wieder nach seinem Hund zu rufen, als er am gegenüberliegenden Ufer eine Bewegung im Dickicht wahrnahm. Er hörte Zweige knacken und Laub rascheln, und es schien ihm, als würde etwas über den Boden geschleift. Am Ende hat er sich noch wehgetan, dachte Pellanda alarmiert.
Den Bach zu überqueren war keine leichte Sache. Pellanda trat versuchsweise auf einen aus dem Wasser ragenden Felsen, der vom Algenbewuchs glitschig wie Schmierseife war. Aber mit einem beherzten Sprung landete der Bürgermeister auf dem nächsten, weiter aus dem Wasser ragenden Felsen. An einen Ast geklammert, der oberhalb des Tümpels herabhing, gelangte er Schritt für Schritt ans andere Ufer.
»Black! Wo bist du?«
Nichts rührte sich. Er horchte. Dann seufzte er und stellte den Mantelkragen auf. Verdammter Hund.
Es blieb also nichts anderes übrig, als ihn zu suchen. Der Bürgermeister drang ins Dickicht ein.
6
Die falsche Fährte
Die Leiche lag bäuchlings und schräg halb im Bach, halb am Ufer, die Hose war bis fast zu den Knöcheln nass.
»Haben Sie ihn angefasst?«, fragte Commissario De Marchi.
»Nein. Das heißt, ja«, antwortete Signor Baggi. »Ich meine, ich hab ihn
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