Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
Vom Netzwerk:
selbst, dass Tommi ihr vorschlug, mit ihm was trinken zu gehen.
    Es war fast fünf Uhr nachmittags, draußen dämmerte es schon. Ein eiskalter Wind fegte über die Piazza, und durch die Laubengänge hasteten berufstätige Menschen, die früher Schluss gemacht hatten: Die einen strebten ins Fitnessstudio, die anderen nutzten die Gelegenheit für Besorgungen. Und wieder andere begaben sich gemächlichen Schritts in eine Bar, um sich einen Aperitif zu genehmigen.
    »Locarno ist doch immer wieder schön«, sagte Tommi. »Wenn ich dienstlich hier zu tun habe, mach ich mir einen Spaß draus, Tourist zu spielen.«
    Francesca lächelte. »Man könnte dich wirklich für einen Deutschschweizer halten …«
    »Tja, das macht die Haarfarbe«, sagte er. »Aber du - lebst du denn hier in der Stadt?«
    Francesca wohnte noch in ihrem alten Apartment unweit des Bahnhofs. Nach einer turbulenten Zeit der Skandale und Verbrechen im Zusammenhang mit dem Ruggeri-Collier hatte sie schließlich in ihr gewohntes Leben zurückgefunden. Neu war nur diese sonderbare Beziehung mit Elia Contini.
    Und genau darüber unterhielt sie sich jetzt mit Tommi Porta, einfach so, zu ihrer eigenen Überraschung: Sie kannte ihn doch kaum! Aber vielleicht fiel es ihr gerade deshalb leichter; und obwohl er den Eindruck machte, als lebte er ein bisschen abseits der Welt, schien er ihre Situation zu verstehen. Vielleicht hatte er ein ähnliches Problem.
    »Hast du inzwischen getan, was du tun wolltest?«, fragte sie schließlich.
    »Was meinst du?«
    »Im Zug hast du gesagt, du wirst deinen Mut zusammennehmen, um was Bestimmtes zu tun, aber …«
    »Ah ja, klar!«, rief Tommi. »Nein, ich hab’s noch immer nicht geschafft. Ich schiebe es ständig vor mir her. Aber morgen … ich glaube, morgen ist der richtige Tag.«
    »Ich wette, es steckt ein Mädchen dahinter …«
    »Nein, nein … Es ist keine Beziehungssache, sondern … ach, das ist zu lang zu erklären. Stattdessen erzähl ich dir, dass ich womöglich deinen Elia kenne.«
    »Echt?«
    »Das heißt, ich habe ihn früher gekannt, in unserer Kindheit. Stammt er nicht aus Malvaglia?«
    »Ja, das stimmt! Also so ein Zufall, nicht zu fassen …«
    »Tja«, sagte Tommi nach einem Schluck Wein. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist sein Vater von zu Hause abgehauen …«
    »Abgehauen wohl eher nicht. Es ist ein Rätsel.«
    Und sie sprachen über Malvaglia und den Stausee. Tommi schilderte seine Ratlosigkeit und betonte noch einmal, wie sehr er seine Heimat liebe; sie wiederum klagte noch einmal über Continis extreme Verschlossenheit... Am Ende tauschten sie Telefonnummern aus, und Tommi versprach anzurufen, wenn er das nächste Mal in Locarno sei.
    »Also denk dran, ja?«, sagte sie zum Abschied. »Morgen musst du diese Sache erledigen!«
    »O ja.« Tommi lächelte. »Ganz bestimmt.«
    Osvaldo Laffranchi trauerte seiner Dienstzeit nicht nach. Für die Leute aus dem Ort war er nach wie vor »der Kommissär«, und seitdem er in Pension war, hatte er sich eine Routine zurechtgelegt, hatte einen eigenen Lebensrhythmus gefunden, der ihn aufheiterte.
    Seit einiger Zeit aber wachte er immer schon lange vor Tagesanbruch auf und schlief nicht mehr ein.
    Es war nichts Konkretes, das ihn beunruhigte. Eher eine unangenehme Beklemmung, die seinen Herzschlag beschleunigte und ihn rastlos von einem Zimmer ins nächste scheuchte. Aber als eines Nachmittags das Telefon läutete und er Continis Stimme hörte, ging ihm ein Licht auf.
    Der Detektiv fiel mit der Tür ins Haus: »Erzählen Sie mir von meinem Vater«, sagte er.
    Laffranchis Beklemmung war augenblicklich wieder da. Das war es also, was ihn quälte? Die unterdrückten Erinnerungen, die sich befreit hatten und jetzt ungehemmt umherschweiften?
    »Er war ein anständiger Mann.«
    »Ja, sicher, aber wie war er, mit wem hatte er Umgang? Warum ist er so früh in Pension gegangen?«
    »Er liebte die Berge, und er hatte den Polizeidienst satt. Und er hat sich ja nicht zur Ruhe gesetzt - mit seinem Gemüsegarten und seinem Weinberg hatte er mehr Arbeit als früher.«
    »Er hatte den Polizeidienst satt …«, murmelte Contini.
    Laffranchi erriet so genau, was Contini dachte, dass er selbst erschrak. »Ihr Vater«, sagte er, »war ein zurückgezogener Mann, der nicht viele Freunde hatte. Aber der Herr Martignoni, der gleichzeitig mit ihm verschwunden ist, war ihm ein Freund.«
    »Aber mein Vater wusste nichts von der Treuhandgesellschaft, von Martignonis wirtschaftlicher Lage

Weitere Kostenlose Bücher