Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
Vom Netzwerk:
nahm die Mütze ab und fuhr sich mit einer Hand über den Nacken. Ihn schauderte. Was einem alles passieren kann. Im Februar noch dazu. Ausgerechnet in Malvaglia. De Marchi stieg wieder zur Brücke hinauf und ging auf ein Polizeiauto zu, neben dem ein Beamter mit dem angeleinten Hund des Bürgermeisters stand.
    »Guter Hund, braver Hund«, sagte De Marchi und beugte sich nieder, um ihn zu tätscheln, »sehr brav …«
    Der Schäferhund, der noch immer nicht wusste, welches Schicksal seinen Herrn ereilt hatte, wedelte freudig. De Marchi blickte ihm in die Augen und murmelte, fast ohne die Lippen zu bewegen: »Hast du was gesehen?«
    Der Hund erwiderte den Blick mit weit offenen gelben Augen.
    Gut, dachte De Marchi. Bestens. Der Bürgermeister von Malvaglia stirbt unter obskuren Umständen, und die Polizei vernimmt den einzigen Zeugen: einen Hund.
     
    GIOVANNI PELLANDA TOT IM GEBIRGE GEFUNDEN.
     
    Contini legte die Zeitung nieder und nahm einen Schluck Kaffee. Er blickte durchs Küchenfenster hinaus ins kahle Geäst eines Walnussbaums. Obwohl die Presse behauptete, der Bürgermeister sei vermutlich eines natürlichen Todes gestorben, hatte er eine böse Ahnung. Was, wenn nicht?
    Man musste die Entscheidung des Staatsanwalts abwarten. Contini aber traute seinen Ahnungen. Schon seit seiner Begegnung mit Don Giacomo in Mendrisio spürte er, dass etwas in der Luft lag. Der Staudamm von Malvaglia, die Häuser am Grund des Sees, die Auseinandersetzungen. Und jetzt, der Tod.
    Vielleicht besteht gar kein Zusammenhang, sagte er sich, während er seine Tasse ausspülte. Vielleicht stecke ich einfach persönlich zu tief drin. Der graue Kater sprang auf die Arbeitsplatte neben dem Spülbecken, nahm seine Sphinxhaltung ein und beäugte Contini unverwandt. Es war ein sonniger Morgen Anfang Februar, und es schwang wie ein ferner Glockenschlag eine Vorankündigung des Frühlings in der Luft. Der Kater war unruhig. Beweg dich, Contini, jetzt scheint die Sonne, du musst raus und dich bereit halten. Aber Contini war abgelenkt. Üble Vorahnungen plagten ihn. Und wenn es doch einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden seines Vaters und Pellandas Tod gab?
    Diese Frage, das wusste er, würde er so schnell nicht mehr los - er musste sie beantworten. Deshalb saß er eine halbe Stunde später im Auto, auf dem Weg nach Chiasso. Es war an der Zeit, mit dem Herrn Finzi ein paar Takte zu reden. Luigi Martignoni und Ernesto Contini waren seit zwanzig Jahren vermisst, Finzi aber erfreute sich bester Gesundheit. Und verdiente einen Haufen Geld mit seiner Treuhandgesellschaft im Zentrum von Chiasso, direkt an der Grenze.
    Chiasso wird von zwei Autobahnausfahrten in die Zange genommen, und deshalb wälzt sich durch den Ort und seine Verkehrskreisel ein Strom von Autos, die nicht recht wissen, wohin. Auch der Fluss hat seit dem Autobahnbau seinen Lauf geändert. Wer von Süden kommt, merkt sofort, dass in Chiasso Italien endet und die Schweiz beginnt. Aus Euros werden Franken, die Straßennamen ändern sich, und in den Ämtern sind die Anweisungen dreisprachig. Die gesamte Atmosphäre ist durchdrungen von diesem ungreifbar Schweizerischen, das zusammen mit der Währung und der Fußballnationalmannschaft noch immer die alte Eidgenossenschaft aufrecht hält.
    Contini ließ seinen Wagen außerhalb des Stadtzentrums stehen und ging zu Fuß die Via Manzoni entlang. Nach ein paar Minuten bog er in das Gewimmel auf dem Corso San Gottardo ein, wo er sich nicht auskannte und in einer Bar nach dem Weg fragte. Er müsse umkehren, erfuhr er, dann abbiegen und noch ein Stück weitergehen. Er folgte den Anweisungen und stand bald in der Via San Sebastiano vor einem glänzenden Messingschild:
     
    TREUHANDGESELLSCHAFT
AMEDEO FINZI & PARTNER
     
    Eine Art Sekretär mit Leichenbittermiene versuchte ihm klarzumachen, dass Signor Finzi beschäftigt sei. Aber Contini war sicher, dass ihm der Name Martignoni wenigstens die Tür zum Vorzimmer öffnen werde, und so war es. Natürlich ließ ihn der Boss erst einmal vierzig Minuten warten, das schien er sich schuldig zu sein. Aber Contini war nicht aus der Ruhe zu bringen, und die Geduld zahlte sich aus, am Ende führte ihn der finstere Sekretär wortlos ins Allerheiligste.
    Das Zimmer war leer. Contini hatte Zeit, sich umzusehen. Das Büro des Chefs war ganz auf Behaglichkeit und Luxus ausgerichtet: weiche Teppiche, weite, tiefe, kremfarbene Polstersessel, ein Ultraflachbildschirm neben der Tür und hinter dem Schreibtisch

Weitere Kostenlose Bücher