Am Grund des Sees
Ripper an und kniff ihm in den Hintern. Er sah Luftschlangen, Tröten, einen Clown, der mit Marilyn Monroe tanzte. Fasnacht!
Vassalli liebte die Lärmkulisse, die grotesken Gestalten. In diesen Augenblicken tankte er neue Energie, für ein paar Stunden fielen aller Ärger, alle Banalitäten des Alltags von ihm ab, Vassalli wurde ein anderer Mensch: Er verkleidete sich, spielte Tuba, verbündete sich mit der Jugend.
Eine spektakuläre Blondine kreuzte vor ihnen auf, und Vassalli stieß Tommi Porta mit dem Ellenbogen an und tuschelte: »Na? Ist die scharf?«
Tommi grinste.
»Grad schad, dass wir spielen müssen …«
Die gemeinsam durchfeierten, durchspielten, durchzechten Nächte machten die Musiker zu Komplizen. Zumal sie in der Mehrzahl noch keine dreißig waren: Im Vergleich zu den anderen war sogar Tommi vergleichsweise alt - zu schweigen von einem alten Wolf wie Vassalli, der über fünfzig war. Aber der Ingenieur hielt ohne Weiteres mit den Zwanzigjährigen mit - jedenfalls ein paar Nächte lang - und schreckte vor nichts zurück. Schließlich war Fasnacht, oder?
An diesem Abend war Tommi nervös. Nach außen hin lachte und scherzte er, in seinem Herzen aber saß der Tod. Er verbarg ihn gut, umschmeichelte ihn, damit er sich ruhig verhielt. Doch es war nicht genug Zeit: Ein zwanzig Jahre lang niedergehaltener Hass stand kurz vor der Explosion. Tommi hatte Francesca eine SMS geschickt; er wusste, dass sie und Contini in Bellinzona waren. Und auch Elia, das wusste er, wollte es an diesem Abend passieren lassen. Tommi würde ihn benachrichtigen und dann so tun, als wäre nichts. Sein Herz aber barst schier vor Angst und Stolz.
Elia und Tommi. Zeit der Rache. Sie waren zwei Buben gewesen, als ihre Häuser geflutet wurden. Und jetzt war er hier, als Wiese verkleidet, mit angenähten Stoffblumen auf der Brust und seinem Saxophon um den Hals. Er war hier und lachte einträchtig mit dem Mann, der den Staudamm geplant hatte. Sie lachten und schauten den Frauen hinterher, insgeheim aber lauschte Tommi dem Tod in seiner Brust.
Chico Malfanti war als Marienkäfer maskiert. Dahinter stand eine Strategie: Die Marienkäferverkleidung erhöhte seine Eroberungschancen beträchtlich. Warum das so war, wusste er nicht. Aber Chico war kein Theoretiker: Wichtig war, was am Ende herauskam, und dass Marienkäfer bei Mädchen zärtliche Gefühle auslösen, war Fakt.
Deshalb trug der junge Anwalt ein rotes Kostüm mit schwarzen Punkten, zwei Nylonflügelchen auf dem Rücken und auf dem Kopf zwei vibrierende Drahtantennen als Fühler. In dem riesigen Zelt auf der Piazza del Sole wimmelte es von Verkleidungen, Masken, geschminkten Gesichtern; besonders ballte es sich an den Ausgängen, wo die Leute herein- und hinausdrängten.
Chico ging auf eine Bar zu, bahnte sich einen Weg zum Tresen und bestellte einen Gin Tonic. Er hielt nach Gianca und Ramon Ausschau und fand sie mit zwei Krankenschwestern beschäftigt. Jemand tippte ihm auf die Schulter und fragte: »Tschuldige, wie viel Uhr ist es, bitte?«
Chico drehte sich um und erblickte vor sich eine gewaltige Kuckucksuhr, die eine Minute vor zwei zeigte.
»Fast zwei«, antwortete Chico, »jedenfalls auf deinem Kopf.«
Die Kuckucksuhr lächelte. Blickte nach oben und sagte: »Na dann …«
Der Minutenzeiger rückte weiter, und auf dem Zifferblatt ging ein Türchen auf, ein kleiner Vogel kam heraus, rief viermal »Kuckuck« und verschwand wieder.
»Schon klar, es ist erst zwei«, sagte die Uhr. »Aber ab einer bestimmten Stunde schreit er doppelt.«
In diesem Moment hängte sich ein Mädchen mit nicht eindeutig erkennbarer Verkleidung, aber bemerkenswertem Minirock an den Arm der Uhr und sagte: »Wie süß! Darf ich bitte noch mal deinen Piepmatz sehen?!«
Chico beschlich der Verdacht, dass sein Marienkäfer ausgedient hatte. Es verlangte ihn nach frischer Luft. Gianca und Ramon hatten sich verflüchtigt. Angesichts der für die Fasnacht noch frühen Stunde hatte Chico schon zu viel getrunken, und das von Lichtblitzen und ohrenbetäubendem Lärm erfüllte Riesenzelt war schwer zu ertragen. Mühsam arbeitete er sich zum nächstgelegenen Ausgang durch und stieß, als er endlich draußen im Freien war, einen Seufzer der Erleichterung aus.
Er nahm sich vor, ein weniger überfülltes Zelt zu suchen. Als er in die Via Codeborgo einbog, wurde er von einer Gruppe junger Leute umringt, die alle einen weißen Overall mit der Aufschrift CSI auf dem Rücken trugen.
»Achtung,
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