Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
Vom Netzwerk:
seine Kakteen geworfen hatte, zog er zu Hause eine alte Hose und einen Wollpulli an und widmete sich seinen empfindlichsten Exemplaren, die den Winter in einem eigenen Quartier mit einer Temperatur um die fünf Grad verbracht hatten. Unter ihnen war ein Trichocereus candicans, der immer im Begriff zu sein schien, eine Blüte zu treiben. Contini betrachtete das dickbäuchige Exemplar mit den langen gelben Stacheln, fand aber kein Anzeichen dafür, dass sich etwas tat. Ohnehin pflegt der Trichocereus immer in der Nacht aufzublühen. Wenn du morgens aufstehst, sind sie da, ohne Vorankündigung, wunderhübsche Blüten, weiß und duftend.
    Vielleicht ist es morgen so weit, dachte Contini.
    Er füllte ein bisschen Erde nach und verschob den Trichocereus ein wenig, damit er mehr Sonne bekam. Dann wandte er sich einem im Entstehen begriffenen Pfropf zu, den er einem Exemplar von Gymnocalycium Friederickii aufpflanzen wollte.
    Gegen halb acht empfand er einen Anflug von Appetit - nicht viel, nach dem späten Mittagessen, aber ausreichend, um in die Küche zu gehen. Wenn man allein lebt, muss man sich auch zum Kochen zwingen, jedenfalls ab und zu.
    In der Speisekammer fand er eine angebrochene Schachtel Fettuccine, die er kochte und nach dem Abtropfen mit einem Löffel Mascarpone und angebratenem Schinken vermischte - eine Idee, die er von Piero hatte. Dazu öffnete er eine Flasche Merlot aus dem Mendrisiotto, den ihm Signor Rovelli zum Dank für die Beschattung seiner Ehefrau geschenkt hatte. Was für ein Beruf, dachte Contini wieder einmal. Während er aß, ließ sich der graue Kater zu einem Besuch am Tisch herab. Sag nichts, Chef: Ich wette, du steckst in einem Schlamassel. Sonst hättest du dir wohl kaum die Mühe gemacht zu kochen.
    Pass auf, Kater, ich bin heut nicht in Stimmung …
    Nach dem Essen ging er hinüber ins Wohnzimmer und blätterte in Dantes Komödie . Es war eine alte Ausgabe, die er von seinem Vater hatte: eines der wenigen Bücher, wenn nicht überhaupt das einzige, in dem Contini von Zeit zu Zeit las. So kam die Stunde, die zu weichem Sehnen des Schiffers Seele zieht zum Scheidetage, und da sich liebesbang die Herzen dehnen den jungen Pilgern, die aus fernem Hage die Glocke hören, also weh erschwungen, als ob sie um des Tages Sterben klage …
    Contini wusste nichts vom Sehnen des Schiffers. Was aber ist mit denen, die zurückbleiben? Niemand spricht je vom Sehnen des Gebliebenen, der seine Freunde sich verändern, Häuser sterben, Neues alt werden und Schmerzen zu Banalitäten verblassen sieht. Bis aus fernem Hage die Glocke ertönt und auch die Reglosen, die Sesshaften von Sehnsucht ergriffen werden …
    Genug. Verdammt, wurde er jetzt zum Dreigroschenphilosophen? Ein Detektiv war er, und sein Job war es, zu ermitteln. Zu tun, was ein Schnüffler tut: seine Nase in fremde Angelegenheiten stecken, Fragen stellen, im Tratsch wühlen wie ein Schakal im Müll.
    Was hat Pellandas Tod mit meinem Vater zu tun? Und mit dem Ausbau des Stausees? Und warum taucht Desolina ausgerechnet jetzt aus der Versenkung auf? Das waren die Fragen, denen er sich stellen musste. Das war seine Arbeit.
     

9
    Und wenn ein Irrer frei herumläuft?
    Gibt es etwas Traurigeres, fragte sich Chico Malfanti, als die Piazza del Sole an einem Wintertag? Mitten im Zentrum von Bellinzona klaffte diese gepflasterte Trostlosigkeit, die sich »Sonnenplatz« nennt; Betonwürfel in den vier Ecken markieren die Zufahrten zum Parkhaus: Das sah nicht aus wie ein urbaner Platz, sondern wie die Rampe zu einem Megaraumschiff, wie direkt aus Star Wars .
    Lange hielt sich der Junganwalt mit solchen Gedanken freilich nicht auf. An diesem Vormittag hatte er eine Verabredung mit einem Privatdetektiv, und die wollte er auskosten.
    Anfangs war er ein bisschen enttäuscht. Dieser Typ kam ihm überhaupt nicht vor wie ein Schnüffler. Als der Detektiv in der Bar in der Via Codeborgo, in der sie sich getroffen hatten, den Mantel auszog, kamen ein heller Anzug und eine fadendünne schwarze Krawatte zum Vorschein, und in diesem Aufzug, dazu mit diesem hageren Gesicht und den kalten Augen kam ihm der Mann eher vor wie ein argentinischer Gaucho denn wie ein Polizist.
    Der zweite Eindruck war allerdings schon besser: Der Schnüffler, Contini hieß er, hielt sich nicht mit Präliminarien auf, sondern fiel sofort mit der Tür ins Haus. Bei einem Viertel Weißwein erzählte er, sein Vater sei seit zwanzig Jahren vermisst, und er, Contini, ermittle jetzt in der

Weitere Kostenlose Bücher