Am Grund des Sees
draußen die Beine zu vertreten. Er kaufte sich ein Bier in einem Plastikbecher und trank es auf den Stufen vor der Statue einer Robbe. Er hörte hinter sich ein Gelächter, und als er sich umdrehte, sah er einen Jungen mit blau gefärbten Haaren, der die Robbe umschlag und sie aufs Maul küsste.
Irgendwas stimmte nicht. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich zur Fasnacht verschleppen zu lassen, aber das war es nicht allein, die Sache war komplizierter. Erst das Zusammentreffen mit dem Anwalt Malfanti und jetzt auch noch Tommi Porta. War das noch Zufall? Wieso führten heute alle Fäden nach Malvaglia zurück?
Der Detektiv stand auf und schlenderte die Piazza entlang. Bald kam der Morgen. Hier und dort irrten ein paar Versprengte durch die Straßen, ein Betrunkener drückte sich an eine Mauer, vor dem Theater stritt ein Paar. Die Fasnacht ging zu Ende. Der Platz war übersät von Pappbechern, und Contini ging durch einen Matsch aus zertretenen Konfetti und Schmutz.
Als sein Mobiltelefon schrillte, dachte er zuerst, es sei Francesca. Aber die angezeigte Nummer war ihm fremd, und als er sich meldete, antwortete niemand.
»Hallo? Ist da jemand?«
Da war jemand. Contini hörte es atmen. Ein langes, tiefes Atmen, wie wenn jemand verschnauft, nachdem er gerannt ist.
»Wer ist dran?«
Schweigen. Nur dieses Atmen. Contini schaute auf das Display. Vielleicht wurde von einer Telefonzelle aus angerufen. Er wollte schon die Verbindung unterbrechen, als eine männliche Stimme sagte: »Sandro Vassalli.«
»Wie bitte?«, fragte Contini sofort. »Was sagen Sie?«
Aber der andere war schon fort. Contini stand mitten auf dem Platz, das stumme Telefon ans Ohr gedrückt, und ein scheußliches Gefühl breitete sich in ihm aus.
»Was für ein Leben! Ach!«
»Es ist eine schwierige Welt!«
»Findest du? Aber es gibt auch die Musik, und was spielen wir jetzt noch? He?«
»Die Schweizer Hymne! Schließlich wird heut gefeiert, oder?«
»Trittst in Morgenhoffnung her …«
»Hoffnung? Was singst du denn für einen Mist? Trittst im Morgen rot daher!«
»… Seh ich dich im Strahlenlicht…«
»Strahlenmeer! Das ist der Reim auf ›daher‹!«
»Aber geh, da red der Richtige - du haust immer mit der Melodie daneben!«
Auf der Piazza Collegiata gaben die Musiker der unentwegten Spacatesta-Band immer noch ihr Bestes. Sie versuchten es jedenfalls: Ein Trompeter brachte die Melodie noch richtig heraus, aber den vollständigen Text der Nationalhymne schaffte keiner mehr. Einer wusste die Strophen auf Deutsch, wurde aber sofort ausgepfiffen, kaum hatte er den Mund aufgemacht.
Spät war es. Ach, widerlich spät! Oder vielmehr früh … Vassalli kicherte. Es war fast Morgen, und wo waren die Vöglein? Nichts war zu hören, aber um diese Zeit musste Vassalli nach Haus, möglichst schnell. Das Auto finden und nach Malvaglia fahren. So früh am Morgen wurde nicht kontrolliert. Wenn er langsam fuhr, kam er sicher an, wie ein aufgegebener Brief, direkt bis nach Haus!
»Ich gehe«, sagte er zu den anderen. »Sowieso habe ich das Auto bei der Schule.«
Zwischen den Fasnachtresten machte er sich auf den Weg. Vorsichtig umschiffte er die Pfützen von Erbrochenem auf dem Pflaster, die letzten Gruppen der Feiernden, die noch grölend durch die Straßen zogen. Die Tuba wurde ihm schon schwer auf dem Rücken, aber da war nichts zu machen - nur weitergehen, einen Schritt nach dem anderen, und am besten nicht nachdenken.
Wie aus einem Traum tauchten bemalte Gesichter vor ihm auf. In dem fahlen Licht, das der Dämmerung vorausgeht, verschwammen die Formen, die Kanten der Mauern, die Wände der Gassen. Vassalli überquerte den Parkplatz hinter dem Rathaus und blickte zur Befestigungsmauer der Burg hinauf. Undeutlich erkannte er die Umrisse der Zinnen und machte sich einen Spaß daraus, sie zu zählen, während er das Tor durchschritt und in der Via Dogana herauskam.
Einen Fuß vor den anderen, in aller Ruhe, Sandro, auch diesmal hattest du deine Fasnacht. Dabei wollten die anderen erst gar nicht, aus Pietät. Aber er, Sandro, wusste, dass der arme Giovanni es genauso gewollt hätte, und schließlich hatten sie für ihn mitgespielt und mitgetrunken …
Vassallis Rausch war traurig, er war jetzt schon ein Katzenjammer. Er ließ die Piazza Indipendenza hinter sich und ging die Via Lugano entlang. Schon seit einer ganzen Weile hörte er eine Musik, die er zuerst für Einbildung gehalten hatte, inzwischen aber war diese melancholische Musik
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