Am Grund des Sees
kurzem gestorben ist. Jetzt ist sie so freundlich, mich bei sich aufzunehmen.«
Contini nahm einen Schluck Portwein.
»Ich habe gehört, dass Vassalli tot ist«, fuhr Desolina fort.
»Ermordet, heißt es.«
Contini nickte.
»Auch Pellanda, der Bürgermeister, wurde ermordet, richtig?«
»Ich glaube ja.«
»War es derselbe Täter?«
»Es ist anzunehmen, aber die Polizei ermittelt noch.«
»Und die glaubt, du bist es gewesen?«
Contini stellte sein Glas ab und starrte Desolina an.
»Ja, möglich. Aber woher weißt du das denn?«
»Ah«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln, »Tratsch. Gerüchte sind geschwind … Stell dir vor, ich hab in der Zeitung über dich gelesen, im Zusammenhang mit den Todesfällen in der Familie Ruggeri. Und ich hab gehört, du hast eine Freundin …«
Contini runzelte die Brauen. Dann platzte er heraus: »Hör zu, Desolina …«
»Francesca heißt sie, ja?«
»Ja. Aber jetzt hör mir zu, Desolina, ich brauche deine Hilfe.«
Desolina hob ihr Glas an die Lippen, ohne den Blick von Continis Gesicht zu wenden. Ihm fiel auf einmal wieder ein, dass sie es einst fertig gebracht hatten, lange Zwiegespräche zu führen, ohne ein einziges Wort zu wechseln.
»Ich weiß nicht, Elia. Es sind so viele Jahre vergangen.«
»Eben.«
»Du hast schon Recht, aber …« Wenn sie sprach - mit halb geschlossenen Lippen -, bewegte sich fast kein Muskel in ihrem Gesicht. »Schau, Elia, ich weiß doch nicht, wer den Bürgermeister und den Ingenieur umgebracht hat.«
»Besteht denn kein Zusammenhang zwischen dem Verschwinden meines Vater und den beiden Morden?«
Desolina schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts, Elia. Und auch mir ist unheimlich zumute. Ich weiß nicht, was hier geschieht, ich verstehe nichts davon.«
»Aber du wolltest mir was erzählen.«
»Ja, ja, das wollte ich. Es ist ziemlich verworren, aber ich schreibe jetzt alles auf, und in ein paar Tagen bin ich so weit.«
»Gut, dann warte ich.« Contini blickte ihr in die Augen.
»Ich möchte wirklich wissen, was aus meinem Vater geworden ist.«
»Vielleicht müsstest du unten nachschauen«, murmelte Desolina.
»Unten?«
»Am Grund des Sees, wo euer altes Haus steht. Wenn es ein Geheimnis gibt, dann wird es noch dort unten sein und warten.«
14
Das Haus am Grund des Sees
In den Bergen oberhalb von Corvesco lebte ein alter Eremit mit Namen Giona, oder Jonas.
Jonas lebte von der Jagd, vom Fischen und von dem, was die Leute ihm brachten. Er hatte sich eine Unterkunft gebaut, eine Hütte, die an eine Höhle angrenzte. Jeden Tag sah er zu, wie die Sonne auf- und unterging und das Wasser des Tresalti talwärts floss. Manche, die ihn so sitzen sahen, hielten es für eine Meditation, aber er vertrieb sich einfach die Zeit. Er hatte einen mächtigen Bart, der wild war wie sein Charakter, und er kam so gut wie nie ins Dorf herunter.
Wenn man sich in der Gegend nicht auskannte, fand man nicht leicht zu ihm hinauf. Man musste im Norden von Corvesco durch den Wald aufsteigen, erst zwischen Kastanien, dann zwischen Fichten und, noch höher, zwischen Latschenkiefern. Den Gipfelstock des Monte Basso ließ man links liegen und kam bald auf einer weiten Bergwiese heraus, einer Alpe. Aber es ging noch weiter. Nachdem man einen kleinen Felsenkamm überwunden hatte, überquerte man zuletzt den Tresalti, und es war leicht möglich, dass man, mitten im Fluss auf einem Stein stehend, ein Gekläff von den Felsen widerhallen hörte: »Wer da?!«
Contini hätte eigentlich schon daran gewöhnt sein müssen, aber der alte Jonas schaffte es immer wieder, einen zu erschrecken.
»Bitte nicht schießen«, rief er und hob die Hände, »ich bin’s nur …«
Unter einer schmutzstarrenden Mütze der Chicago Bulls tauchte aus dem Gestrüpp das bärtige Gesicht des Alten auf. Er hatte ein Jagdgewehr in der Hand.
»Sieh an!«, rief er. »Der arme Contini! Dass du noch lebst!«
»Sieht so aus«, sagte Contini. »Wieso, sollte ich tot sein?«
»Jedenfalls im Knast, wenn es nach den Zeitungsfritzen ginge. Aber komm, denn heute lacht dir das Glück: Heute gibt es Hasenbraten … Frisch erlegt.«
Giona redete wie einer, der häufig Selbstgespräche führte, er würzte seine umgangssprachliche Ausdrucksweise mit literarischen Wendungen, die er aus Büchern hatte. Contini sprang ans andere Ufer und sagte: »Aha, einen Hasen! Wer hätte gedacht, dass im Februar schon die Jagdsaison eröffnet ist …«
Der Alte grinste.
»Der Hase hat das anscheinend
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