Am Grund des Sees
auch nicht gedacht.«
»Ein Wilderer bist du, so schaut’s aus«, sagte Contini vorwurfsvoll.
»Ja, ja, sicher, von welcher Kanzel herab tönt mir solche Predigt! Los, komm mit zu mir nach Hause …«
Die Einrichtung der Hütte war von der Art, die Zeitschriften gern als »individuell« bezeichneten. In den Regalen an den Wänden hatte Giona Bücher, Zeitungen, Flaschen, Jagdtrophäen und einige von Contini gespendete Fuchsbilder. In seinem »Salon«, wie er sagte, gab es vier Sitzgelegenheiten: ein Fass, einen modernen Stuhl aus Stahlrohr, einen mit Stroh gefüllten Jutesack und einen Holzschemel.
Contini wählte den Schemel und zündete sich eine Zigarette an. Giona war sein Tabaklieferant, machte allerdings ein großes Geheimnis um die Herkunft seiner Ware. In einer Ecke der Hütte hatte er einen offenen Herd, auf dem ein Feuer brannte. Giona stocherte mit einem Schürhaken in der Glut und fachte sie an, um seinen Hasen zu braten.
»Mach dir meinetwegen keine Umstände«, sagte Contini, »ich hab schon gegessen.«
»Sieht aber nicht so aus: Du kommst mir recht ausgemergelt vor!«
»Ist grad eine schlechte Zeit.«
»Eine Herzstärkung nimmst du wenigstens, ja?«
Der Detektiv nickte, und der Alte brachte ihm ein Glas von seinem Geheimlikör, den angeblich ein Kloster im Herzen der Alpen herstellte.
»Schau, ich hab dir was zu essen und eine Kiste Zigarren mitgebracht«, sagte Contini.
»Sehr liebenswürdig«, antwortete Giona und zündete sich sofort eine an.
Eine Zeit lang rauchten sie schweigend. Dann sagte Giona: »So, Junge, du steckst zur Abwechslung also wieder mal in Schwierigkeiten.«
»Ja, und diesmal ist es ernst.«
»Ach was? Erzähl, erzähl!«
Giona hielt sich gern auf dem Laufenden, las die Tageszeitungen der Woche, wenn er sie bekam, oder des vergangenen Monats. Contini fasste zusammen, was in den letzten Wochen geschehen war, begann mit seinem Wunsch, mehr über das Schicksal seines Vaters zu erfahren, berichtete von den Morden an Pellanda und Vassalli und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass dem Polizeiprofil zufolge der Mörder Elia Contini sein musste.
»Und die Polizei versteht ihr Geschäft«, bemerkte Giona nachdenklich.
»He, jetzt sag bloß nicht, dass du genauso denkst!«
»Wer weiß.« Giona stocherte wieder im Feuer. »Wer weiß … Scheußliche Geschichte. Eine Rache? Hm. Und wer rächt sich? Der kleine Elia, weil sein Vater verschwunden und sein Haus einem Stausee zum Opfer gefallen und er selber nervenkrank ist? Scheint dir das plausibel?«
Contini schwieg nachdenklich. Dann sagte er: »Ja, es ist plausibel. Das ist ja das Schlimme.«
»Und ist es wahr?«
»Ich habe niemanden umgebracht, wenn du das meinst!«
»Das wissen wir. Aber ist es irgendwie möglich, dass das alles wahr ist, auch wenn du nicht der Mörder bist?«
»Versteh ich nicht.«
Umwölkt von Zigarrenrauch, murmelte der alte Jonas in seinen Bart hinein: »Die Überlegungen der Polizei sind richtig. Sie sehen die Indizien und sagen sich: Der kleine Elia ist unser Mann. Aber die Indizien sind immer auf einer Leinwand, verstehst du? Oder einer Spiegelfläche, und darauf erscheint unser Elia. Ja, alle Indizien verweisen auf ihn, und es ist ja auch sein Bild, das im Spiegel erscheint, aber …« Der Alte hob den Kopf und die Stimme: »Aber wer ist auf der anderen Seite des Spiegels?«
»Was meinst du?«
»Du bist das Spiegelbild, wer aber spiegelt sich? Das ist die Frage, die du beantworten musst.«
»Hör zu, Giona …«
»Und hast du dich mal gefragt«, fuhr der Alte fort, ohne auf ihn zu achten, »wieso der Mörder dich anruft, bevor er hingeht und Vassalli umbringt?«
»Das ist mir, offen gestanden, ein Rätsel. Eine Form von Exhibitionismus? Prahlerei?«
»Hm … wer weiß. Aber wer steht vor dem Spiegel und schaut hinein?«
Der Detektiv sah ihn fragend an.
»Es ist nur ein Gefühl von mir«, sagte Giona, »aber derjenige, der das Bild wirft, ist eine Sache, eine andere, was sich unter der Oberfläche tut. Du musst nachschauen, was drunter ist, unter dem Spiegel - es reicht nicht zu beweisen, dass du nicht der Mörder bist.«
»Jetzt lass doch mal deine Metaphern. Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Du musst schauen, was auf dem Grund des Sees ist. Du musst rausfinden, was vor zwanzig Jahren passiert ist. Wenn alles auf dich hindeutet, dann heißt das, dass der Schlüssel zu dem, was morgen passiert, dort unten liegt.«
»Weil deiner Ansicht nach morgen …«
»Oder übermorgen
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