Am Grund des Sees
Zigarette an. »Vielleicht nicht. Aber ich will jetzt endlich wissen, was aus meinem Vater geworden ist.«
Mit einem Fernglas beobachtete Tommi von oben den Staudamm. Seit dem frühen Nachmittag war er auf seinem Posten und verstand nicht recht, was sie eigentlich vorhatten. Zum Glück war Samstag. Obwohl er in letzter Zeit ohnehin nicht mehr regelmäßig im Büro gewesen war. Was er momentan erlebte, war zu wichtig, als dass man die Zeit mit den Banalitäten des Alltags verplempern durfte. Spazierfahrten, Diskonächte, Telefonate mit Autohauskunden - wozu denn noch?
Endlos langsam verstrichen die Minuten. Tommi stand dort oben zwischen den Felsen, kämpfte gegen die Kälte und beobachtete Contini und einen zweiten, die irgendein Material das Ufer entlangschleppten. Taucherausrüstung, erkannte er durch das Fernglas. Tommi war nahe daran, die Geduld zu verlieren, die Zeit schien stillzustehen. Dabei bestanden die Minuten nur aus kleinen Sekunden. Und wenn n eine kleine Zahl ist, dann gilt das auch für n +1. Also ist jede Zahl klein.
Jede Zahl ist klein, jede Zahl ist klein, sagte sich Tommi. Trotzdem hatte es eine gemeine Kälte! Außerdem war er nicht gern so lang allein. An die Zukunft zu denken machte ihn nervös.
Immerhin schämte er sich nicht mehr. Tommi war jetzt seiner Sache sicher. Es heißt, es sei besser, sich einer Gewalttat zu schämen als ohne Scham zu handeln. Aber wenn es einem besser geht, weil man sich geschämt hat, dann lässt das Gefühl der Scham nach. Ein Paradox.
Tommi liebte Paradoxe. Zurzeit studierte er die Spieltheorie, und die Welt der Logik faszinierte ihn. Um sich die Zeit zu vertreiben, dachte er an eine Denksportaufgabe, die er am Morgen gelesen hatte, das Problem eines Dreikampfs, sozusagen eines Duells zu dritt. Herr A ist ein miserabler Schütze und trifft das Ziel nur jedes dritte Mal, Herr B trifft zwei von drei Malen, und Herr C trifft immer. Bei ihrer Konfrontation schießen sie hintereinander: erst A, dann B, dann C. Herr A ist als Erster an der Reihe. Frage: Auf wen muss er schießen?
Auf wen muss er schießen?
Tommi betrachtete durch das Fernglas, wie der Bärtige Contini den Umgang mit einer Tauchermaske zeigte. Auf dem Boden neben den beiden standen Sauerstoffflaschen, aus einer Tasche ragten Flossen. Die wollen tatsächlich in den See hinunter, dachte Tommi. Wozu denn noch? Die Vergangenheit ist doch für immer tot. Und Tommi hatte sie begraben. Und Elia wusste alles, er hatte ihm doch immer alles gesagt.
15
Das Meer von Malvaglia
Das Läuten des Telefons: Contini stellte sich die leeren Zimmer vor, den Apparat auf der Arbeitsfläche der Küche, der nicht aufhörte mit seinem aufdringlichen Lärm, auch wenn keiner reagierte.
Vielleicht wollte Francesca ja gar nicht mehr mit ihm reden. Im Übrigen hätte Contini nicht gewusst, was er sagen sollte. Es war ihm klar, dass er sich von ihr entfernt hatte, sehr deutlich standen ihm die Etappen der Entfremdung vor Augen. Und jetzt? Wäre es nicht besser gewesen, der Sache ein für alle Mal den Rücken zu kehren?
Allgemein gefragt: Wäre es nicht besser gewesen, der Vergangenheit ein für alle Mal den Rücken zu kehren?
Stattdessen hockte er hier, rauchend, im Abendlicht am Ufer des Malvaglia-Stausees. Als die Sonne untergegangen war, wurde es richtig kalt. Er rappelte sich auf und verscheuchte seine trüben Gedanken, indem er Pancho, der ihm die Tauchausrüstung erklärte, seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.
»Nachdem du null Erfahrung hast, verwenden wir lieber möglichst einfaches Material. Ich hingegen habe hier einen Rebreather, ein sogenanntes Kreislaufatemgerät, den es im Angebot gab …«
»Ist das dann auch zuverlässig?«, fragte Contini.
»Du machst Witze! Das ist ein erstklassiges Teil! Schau her, wie das geht …« Pancho zeigte ihm allerlei Schläuche und beschrieb die Funktionsweise. »Die ausgeatmete Luft wird in einem Behälter aufgefangen, das Kohlendioxid chemisch gebunden und der verbrauchte Sauerstoff durch frischen ersetzt. Dieses hier ist ein experimentelles Modell, das …«
»Experimentell??«
»Keine Sorge, es wird alles prima klappen.«
Seiner anfänglichen Skepsis zum Trotz wirkte Pancho inzwischen direkt begeistert von dem Plan.
»Wir tragen diese Neoprenanzüge, sonst erfrieren wir. Vorsichtshalber binde ich dich an mir fest, wenn wir uns hinunterlassen, man weiß ja nie. Wir kommunizieren mit den üblichen Tauchzeichen, und bevor ich irgendwas unternehme, frage ich
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