Am Grund des Sees
sich bewegen zu sehen. Ein Tier? Sie hatten alle ihre Rucksäcke dort stehen, und Renzo hatte wenig Lust, seine Sachen von einem Wildschwein zerstört vorzufinden. Gab es Wildschweine in Malvaglia?
Während er noch zoologische Überlegungen anstellte, verschwand das Licht. Erst rieb er sich die Augen, schob die plötzliche Sehschwäche auf Müdigkeit, aber es half nichts, das Licht war verlöscht - wie ein Wildschwein das fertig gebracht haben sollte, war ihm ein Rätsel. Wie sollten sie jetzt in dieser bedeckten, mondlosen Nacht ans Ufer zurückfinden? Wenn Pancho und Contini wieder auftauchten, mussten sie so schnell wie möglich zur Basis zurück, damit sie sich nicht den Tod holten.
Im nächsten Moment war das Licht wieder da. Aber, sah er gleich darauf, es war nicht das Licht der Petroleumflamme, sondern der hin und her huschende Strahl einer Taschenlampe. Renzo biss die Zähne zusammen. Von wegen Wildschwein. Irgendein menschlicher Hurensohn war das, der vor seinen Augen das Basislager durchstöberte.
Tommi hatte die Petroleumlampe heruntergedreht, bis sie verlöschte. Zwar konnten sie ihn sowieso nicht sehen, wenn sie abtauchten, aber sicher ist sicher. Und es war Eile geboten, denn er wusste nicht, wie viel Zeit er hatte, bis sie zurückkamen. Hätte er sich ohne Grund gezeigt, so hätte Elia jedes Recht gehabt, wütend zu werden. Tommi fand diverse Rucksäcke, die Taschen, in denen die Tauchausrüstungen transportiert wurden, einen gasbetriebenen Heizstrahler … Er untersuchte einen Gegenstand nach dem anderen und prüfte, ob einer davon eindeutig Elia gehörte.
Er musste ihm irgendwie klarmachen, dass er hier war und wusste, was Elia tat, dass er seine hirnverbrannte Idee missbilligte. Was war mit ihrem gemeinsamen Plan, hatte er alles vergessen? Stattdessen tauchte er hinab zu dem versunkenen Dorf, besuchte das alte Haus, von dem nichts übrig war als ein paar tote Trümmer.
In einem der Rucksäcke fand er einen verschlossenen Briefumschlag, auf dem als Absender Elia Contini stand. Tommi kramte in seinen Hosen- und Jackentaschen, bis er einen Stift gefunden hatte. Von den Handschuhen behindert, schrieb er eine Zeile auf den Briefumschlag. Ganz nahe fühlte er den See, wie eine Gefahr. Als könnte jeden Moment ein Ungeheuer daraus hervortauchen.
Renzo kämpfte eine halbe Minute mit seiner Unschlüssigkeit. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein und befestigte sie an der Boje, um zu ihr zurückzufinden, zog seine Handschuhe an, packte die Ruder und verlor keine weitere Zeit. Als er sich dem Ufer näherte, hatte sich das hektische Zucken der Taschenlampe beruhigt, und als er sich abermals umsah, meinte er eine über einen Rucksack gebeugte männliche Gestalt zu erkennen. Er bemühte sich, die Ruder möglichst sanft ins Wasser zu tauchen, seine Geräusche auf ein kleines Plätschern zu reduzieren.
Dann stieß das Heck seines Schlauchboots ans Ufer. Wie ein Blitz sprang Renzo hinaus und stürzte sich auf den Unbekannten. Aber der Mann war schneller; mit einem Satz rückwärts entwischte er ihm und löschte die Taschenlampe. Renzo verpasste sein Ziel um ein Haar. Er holte aus und schlug aufs Geratewohl in die Dunkelheit. Er traf etwas Weiches, vernahm einen erstickten Laut aus einer menschlichen Kehle. Da war er ja, keine zwei Schritte entfernt. Beide Hände zu einer Faust geschlossen, holte er noch einmal aus und spürte seine Fingerknöchel knackend auf einem Nacken landen. Der Unbekannte stürzte zu Boden.
Renzo wollte sich auf ihn werfen, um ihn festzunageln, aber er verlor selbst das Gleichgewicht: Dieser Bastard hatte sich zur Seite gedreht und ihm ein Bein gestellt. Verdammt, der Kerl ist schneller als ein Wildschwein. Renzo rappelte sich auf und drehte sich verwirrt um die eigene Achse, aber sein Gegner war verschwunden.
Er hörte ein Rascheln im Gestrüpp und stürzte dem Geräusch sofort nach, bog die Zweige auseinander, die sein Gesicht peitschten, und drang tiefer ins Dickicht ein, doch den Lauten nach zu urteilen, entfernte der Fliehende sich schnell. Zu schnell. Renzo hielt inne und lauschte. Seufzend wischte er sich den Schweiß vom Gesicht. Verdammter Mist, er hatte ihn verloren. Und womöglich hatte er was mitgenommen!
Hastig kehrte er zum Lager zurück, und im schwachen Licht seines Feuerzeugs beugte er sich über den geöffneten Rucksack, den der Bursche durchsucht hatte. Es war der von Contini. Obenauf lagen, flüchtig hingeworfen, ein Briefumschlag und ein Stift. Er
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