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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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zu seinem Glas, aber Giocondo, der selten ein Blatt vor den Mund nahm, stieß einen Fluch aus und rief: »Dabei bist du selber ein Polizist, schon ewig!«
    »Privatdetektiv.«
    »Ist doch dasselbe. Wieso hättest du sie denn umbringen sollen?«
    »Weil ich ein Irrer bin«, sagte Contini, »und weil mein Vater vor zwanzig Jahren, bei der ersten Stauseeerweiterung, verschwunden ist.«
    »Was hat das mit den Morden zu tun?«
    Contini breitete die Hände aus.
    »Mich darfst du das nicht fragen.«
    Giocondo nippte an seinem Grappa und sagte: »Du schaust scheußlich aus. Willst du wirklich nichts essen?«
    Contini leerte sein Glas und stand auf.
    »Mach dir um mich keine Sorgen, Giocondo. Ich esse und trinke genug, sogar zuviel. Und jetzt muss ich weiter. Man sieht sich.«
    »Hm«, brummte der Wirt nur, als er ihn zur Tür begleitete.
    In der feuchten Waldluft knöpfte Contini seinen Mantel bis zum Kinn zu, und nach ein paar Schritten hörte er Giocondo, der ihm von seiner Türschwelle aus nachrief: »Hey, Contini!«
    Der Detektiv drehte sich um.
    »Zeig’s ihnen, den Bullen! Mach sie fertig!«
     
    Als sie abends wieder um den Gasstrahler saßen, vertilgte Renzo Malaspina ein dreistöckiges Sandwich. »Ich muss schließlich nicht ins Wasser«, rechtfertigte er sich.
    Contini entfernte sich ein paar Schritte, um die alte Desolina anzurufen: Er wollte ihr von seinem Vorhaben erzählen und um einen Rat bitten.
    Aber Desolina reagierte nicht wie erwartet.
    »Elia«, unterbrach sie ihn atemlos. »Elia, ich kann mich nicht mehr erinnern … tut mir leid …«
    »Das muss dir nicht leidtun, aber …«
    »Es ist so lang her, und ich bin alt. Ja, es war damals die Rede von viel, viel Geld … Und ich hab den Streit mitgekriegt, weil unten im Keller des Hauses …«
    Sie brach ab, und Contini begriff erst nicht, weshalb, aber dann vernahm er ein ersticktes Geräusch und merkte, dass sie weinte.
    »Desolina«, begann er.
    »Entschuldige«, sagte sie. »Was du vorhast, ist richtig. Tu’s nur. Sieh dich gründlich um. Es ist deine Vergangenheit, du hast das Recht dazu.«
    »Aber du wolltest doch …«
    »Ich kann nicht … nicht am Telefon. Ich schreibe dir!«
    Und ehe Contini noch etwas hinzufügen konnte, hatte sie das Telefonat beendet.
    Pancho sah ihn fragend an, sagte aber nichts. Stattdessen stand er auf und reckte die Arme. Dann legte er Contini eine Hand auf die Schulter und sagte: »Na, bist du bereit zur Reise in die Vergangenheit?«
     
    Tommi saß in seinem Versteck, sah zu und begriff nicht.
    Er war völlig erstarrt vor Kälte, konnte aber den Blick nicht von den drei Männern dort unten wenden. Viele Jahre lang hatte unter der Asche seine Wut geschwelt und war nie verlöscht. Jetzt, da es Zeit war, die Glut anzufachen, zu handeln, verirrte sich Elia wieder in den Erinnerungen. Wie konnte man ihm klarmachen, dass es ein Fehler war? Man musste sich doch an den Plan halten, das war das Wichtigste. Warum will einer wiedersehen, was seit zwanzig Jahren tot und begraben ist?
    Als die drei im Schlauchboot auf den See hinausruderten, kroch Tommi aus dem Gestrüpp hervor und trat an den Heizstrahler, neben dem eine Petroleumlampe brannte.
     
    Contini war müde. Nächtliche Tauchgänge in einem eiskalten Gebirgssee waren gewiss nicht sein bevorzugter Zeitvertreib; dazu kam, dass ihn an diesem Abend auf dem Weg hinaus zur Boje eine seltsame Erstarrung übermannt hatte. Er zwinkerte zwei, drei Mal, gähnte und fragte: »Ist es so weit?«
    »Ja«, antwortete Pancho, »Moment, ich muss das Boot festmachen.« Ein letztes Mal kontrollierte er die Ausrüstung, dann ließen sie sich ins Wasser fallen.
    Renzo blieb, in eine Decke gewickelt, im Boot sitzen und sah sich um. Die Nacht war finster wie ein Brunnenschacht. Ebenso gut hätte er auf dem offenen Meer sein können, und anstelle der unsichtbaren Wälder am Ufer könnten endlose Wellen sein und weitere Tausend und Abertausend Meilen tiefes Wasser...
    Finstere Nacht. Aber er hatte ja die Petroleumlampe, die sie am Ufer neben dem Heizstrahler hatten stehen lassen. Renzos Blick kehrte zu dem kleinen Licht zurück. Das war sein Bezugspunkt, der sichtbare Beweis, dass man zum Glück nicht auf dem Meer war: Das Wasser unter dem Schlauchboot war nur der kleine Stausee von Malvaglia, und dort drüben, hinter der Staumauer, waren das Dorf, die Bahnstrecke, die Autobahn. Zivilisation.
    Renzo blickte zur Staumauer hin. Dann wieder zum Ufer. In dem Moment meinte er vor der Lampe eine Gestalt

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