Am Grund des Sees
Tauchanzug eindringen spürte.
»Das ist nur der erste Eindruck«, sagte Pancho. »Geht gleich vorbei.«
Sie schwammen ein Stück an der Oberfläche hin und her, dann schalteten sie die Lampen ein. Beide hoben den linken Arm, öffneten den Lungenautomaten und begannen mit dem Tauchgang. Ringsum war es vollkommen dunkel. Contini hatte ein Rauschen in den Ohren und das Gefühl, langsam ins Nichts abzugleiten. Er spürte einen Händedruck und sah im Lichtstrahl der Lampe das Zeichen für okay. Er antwortete sofort, verwundert über die Langsamkeit seiner Bewegungen. Das Zischen seines Atems füllte seinen Kopf aus.
Man sah absolut nichts.
Die Lampe erhellte nur einen kleinen Ausschnitt dieser pechschwarzen Finsternis, der hinter ihnen sofort wieder pechschwarz wurde. Diese Trostlosigkeit, dachte Contini, musste doch auch Pancho verblüffen - ein nächtlicher Tauchgang in einem künstlichen See im Spätwinter ist schon etwas anderes als ein tropisches Meer voller bunter Fische und Pflanzen und Lichtreflexe …
Ein kräftigerer Händedruck. Das Zeichen für okay. Contini antwortete und folgte mit dem Blick dem Lichtstrahl, bis er unter ihnen undeutlich eine dunkle Masse erkannte. Sie leerten ihre Westen und ließen sich noch ein paar Meter tiefer sinken. Als sie den Boden berührten, stieg eine Wolke aus Sand und Ablagerungen auf. Pancho bedeutete ihm, zu warten, und schaltete die Lampe aus.
Contini konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach ein paar Minuten hatte das Sediment sich wieder gesetzt, und Pancho ließ den Lichtstrahl über die Szene gleiten. Die Holzwände waren eingestürzt, doch Contini erkannte die Ruine eines alten Bauernhofs. Und ein Stück höher, links … Contini spürte einen Stich in der Lunge, und sein Atem stockte.
Über ihnen, ganz nahe, stand sein Elternhaus.
Er erkannte es auf Anhieb, auch wenn die Lampe nur wenige Details erfasste. Die gemauerten Wände standen noch, das Dach war eingestürzt. Pancho ließ das Licht über die Fassade gleiten. In dieser Finsternis, dieser Schwerelosigkeit, die ihm vorkam wie ein Schweben im Raum, hatte Contini das Gefühl einer Reise in der Zeit, oder in der Fantasie. Aber das Haus stand hier vor ihm, auf dem Grund des Sees, mit steinernen Mauern und leeren Fensterhöhlen, in denen hier und dort noch ein Stückchen Glas aufblitzte.
Contini zwang sich, regelmäßig zu atmen. Er dachte an die Sonnentage in seiner Kindheit, an die weiten Wiesen rund ums Haus. Jetzt trieb er hier im schwarzen, kalten Wasser, und eine namenlose Furcht drückte ihm auf einmal das Herz zusammen.
In Corvesco gab es keine Restaurants. Aber weiter oben, zum Gebirge hin, befand sich in einer Felswand voller klaffender Höhlen und Schluchten ein urchiges Lokal, das Grotto Pepito. Der Weg dorthin führte über eine Zitadelle aus Stollengängen, die in den Stein geschlagen waren: Diese Kellerräume waren mit schweren Holztüren verschlossen, und aus den Ritzen wehte selbst an brütend heißen Sommertagen ein eiskalter Luftzug.
In diesen Grotten wurden Wein, Käse, Würste gelagert, und Pepito, die größte Grotte, bot auch eine Gastronomie an: sommers im Freien, an Steintischen, und im Winter in einer nach Rauch riechenden Stube. Dorthin ging Contini am Sonntag, dem Tag nach seinem ersten Taucherlebnis, um etwas zu trinken. Giocondo Bottecchi, der schnauzbärtige Wirt, war der Enkel des Gründers Pepito. Er entdeckte Contini sofort, kaum war der zur Tür hereingekommen, und musterte ihn.
»Contini!«
»Giocondo.«
»Wie geht’s?«
»Geht.«
»Wein?«
»Danke.«
In Corvesco macht man keine überflüssigen Worte.
Nur ein paar Minuten lang konnte Contini schweigend bei seinem Wein sitzen und in die Flammen des Kaminfeuers starren, bis Giocondo ihn zu umschwirren begann, wie es wissbegierige Wirte gern tun.
»Schon gegessen?«, fragte er. »Ein Stück Braten hätte ich noch.«
»Danke, ich hab keinen Hunger.«
Es war kurz vor zwei Uhr nachmittags. Giocondo schenkte sich einen kleinen Grappa ein und setzte sich zu seinem Gast.
»Wie man hört, hast du ein bisschen Ärger mit der Polizei?«
»Na ja...«
»Ist es wegen den beiden, die ermordet wurden?«
Contini blickte auf und fragte: »Haben sie dich auch ausgefragt?«
»Ja. Anscheinend fragen sie jeden, der dich kennt - wollten wissen, seit wann du in Corvesco wohnst, was du so treibst, wie du bist und so weiter. Die glauben wirklich, dass du’s warst, wie?«
»Ich schätze schon.«
Contini senkte wieder den Blick
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