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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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hielt den Umschlag dicht an die Flamme und las:
     
    AUF WEN MUSS HERR A ALS ERSTES SCHIESSEN?
     
    Was für ein Scheiß ist das denn?, dachte Renzo. Aber mir egal, Contini wird es wissen, sagte er sich, während er den Umschlag zurück in den Rucksack stopfte. In der Hoffnung, dass der Bastard nicht dreist genug war wiederzukommen, beeilte er sich, zur Boje zurückzurudern, bevor die anderen womöglich wieder auftauchten.
     
    Das Gefühl, durch Luft zu schwimmen, wurde immer stärker. Das Licht der Lampe durchschnitt die Dunkelheit wie ein Mondstrahl. Hin und wieder vergaß Contini durch die Nase in die Maske zu atmen; dann quetschte sie sich in sein Gesicht, als wollte sie ihm die Augen heraussaugen. An den Seiten spürte er das Gewicht des Bleigürtels.
    Auf der Höhe des Hauses angelangt, richtete Contini den Lichtstrahl auf seine Hand und deutete mit dem Daumen nach unten, um Pancho mitzuteilen, dass er noch ein Stück tiefer hinunter wollte. Aneinandergeseilt, berührten sie den Boden. Während sie warteten, dass sich das aufgewühlte Sediment wieder setzte, sah Contini im Geist die endlosen Wiesen seiner Kindheit, und dieser schlammige Boden schien ihm wie ein Verrat an der Erinnerung. Er stützte eine Hand an die Hauswand. Pancho deutete auf die Türöffnung. Contini bildete mit den Fingern ein Okay, und sie traten ein.
    Es war ihm, als dringe er schwimmend in eine optische Täuschung ein. Der große gemauerte Herd an der Küchenwand, die Fußbodenfliesen, das Treppengeländer - alles war an Ort und Stelle. Der Lichtstrahl der Lampe holte die Küche seiner Kindheit ins Leben zurück, vom Spülbecken über die Deckenbalken bis hin zur Kellertür. In einer Wolke aus aufgewirbelten Ablagerungen glitten sie durch den Raum. Contini drückte Panchos Hand und deutete zum Keller.
    Dort unten schien es noch dunkler zu sein, obwohl die Menge des verfügbaren Lichts dieselbe war. Die Wände, die zum Teil nicht gemauert, sondern behauener Fels waren, schienen Teil einer unterseeischen Höhle zu sein. Der Boden im Lichtstrahl der Lampe war übersät von Kieselsteinen und morschen Holzstücken, die von den zerfallenen Flaschenregalen, einem kaum noch kenntlichen Schrank mit ausgehängten Türen stammten. Contini drehte sich um die eigene Achse, gleichmäßig atmend, und nahm mit einem Blick alles auf, worauf der Lichtstrahl fiel.
    Nach einer Weile richtete Pancho den Strahl auf seine Hand, deutete auf eine Truhe in einer Ecke und schrieb ein Fragezeichen. Eine Seitenwand fehlte weitgehend, der Deckel aber war geschlossen. Pancho schwamm darauf zu und zerrte daran, aber ohne Erfolg. Deshalb reichte er Contini die Lampe, zog sein Messer und stocherte an dem vom Rost zersetzten Schloss herum. Es gab schnell nach. Pancho steckte sein Messer in die Scheide zurück und klappte den Deckel auf. Contini leuchtete hinein.
    In dem Bruchteil einer Sekunde, den er brauchte, um zu begreifen, explodierte seine gesamte Kindheit und stand in lodernden Flammen.
    Sekundenlang vergaß Contini zu atmen und begann in Richtung Kellerdecke abzuheben, aber Pancho riss kräftig an der Leine, holte ihn wieder herab und bedeutete ihm, regelmäßig zu atmen. Contini gehorchte, atmete ein und aus, aber er war wie gelähmt, starrte entsetzt und doch gebannt in die Truhe und fühlte sich der Ohnmacht nahe. Auch Pancho leuchtete jetzt in die Truhe.
    Vor ihnen auf dem Grund der Truhe lagen zwei Leichen. Derart monströs, dass sie aussahen wie nicht echt, wie aus dem Hinterzimmer eines Horrorkabinetts. Aber sie waren echt: die Überreste zweier menschlicher Wesen. Mumifiziert, wie es geschieht unter Luftabschluss, wenn sich im Lauf der Jahre alles Körperfett in Fettwachs verwandelt, das die Umrisse einer Gestalt wie ein Panzer konserviert. Allerdings gedunsen - die Gesichtszüge waren verzerrt. Stofffetzen, unkenntliche Lumpen umhüllten die Körper. Der Lichtstrahl fiel auf die Schädel, die leeren Augenhöhlen, das erstarrte Grinsen darunter. Dank der Fettwachsbildung waren die Gesichter selbst nach dieser langen Zeit deutlich zu erkennen. Contini hatte sich oft vorgestellt, wie er eines Tages seinen Vater wiederträfe, aber nie, niemals hätte er an eine solche Begegnung gedacht. Es war wie eine grausame Verhöhnung der Erinnerung. Er wandte sich Pancho zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Pancho sah ihn an, und Contini machte mit erhobenem Daumen die Geste für das Aufsteigen.
     

16
    Road Town
    Vielleicht war er selbst nervös, vielleicht

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