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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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gedacht hatte, seine Schneeschuhe mitzunehmen, aber zum Umkehren war es natürlich zu spät. Er bemühte sich, die exponiertesten Flecken zu meiden, und vertraute ansonsten auf seinen Instinkt. Er marschierte ohne Pause, Zweige peitschten sein Gesicht, und wenn er eine Lichtung querte, fuhren ihn Windböen an, die ihn fast das Gleichgewicht kosteten.
    Allmählich hatte er das Gefühl, dass ihn die Kräfte verließen.
     
    Die unter dem Schnee begrabene Piazza Grande in Locarno erinnerte an eine Winterlandschaft aus einem russischen Roman. Francesca Besson blieb stehen und betrachtete die unter hohen weißen Hauben verschwundenen Autos, die Passanten, die ihre Schirme ausschüttelten, die Schneebälle werfenden Kinder, deren Stimmen von all dem Weiß ringsum seltsam gedämpft klangen. Sie erinnerte sich nicht, je solche Schneemassen erlebt zu haben. Sie klopfte sich die Mütze ab und ging weiter, nach Hause.
    An diesem Nachmittag musste die Bibliografie ihrer Doktorarbeit fertig werden: Es war der Teil, den sie am ödesten fand, der ihrem Professor jedoch am meisten am Herzen lag. Gewiss, die Aufzählung von Artikeln und Büchern stellte das Fundament ihrer Arbeit dar, trotzdem hätte Francesca sehr gern auf diesen Grundstock verzichtet - sie befasste sich lieber mit der Errichtung der oberen Stockwerke, auch wenn …
    »Obacht!«
    Ein Schneeball verfehlte sie um ein Haar; Francesca fand sich unversehens mitten in einer Schneeballschlacht wieder. Die eine Gruppe der Kinder hatte sich unter den Lauben verschanzt, während der Trupp der Gegner hinter dem prekären Schutz zweier Schirme einen Angriff versuchte. Die Verteidiger verfügten zwar über ausreichend Munition, die anderen aber hatten den Vorteil der Beweglichkeit. Ein Streifschuss traf Francesca an der Schulter.
    »Runter auf den Boden, schnell!«, rief einer der Buben unter den Lauben, und Francesca lächelte: Wer weiß, wie oft er davon geträumt hatte, diesen Satz anzubringen, dachte sie, während sie sich in Sicherheit brachte.
    Das Schlachtfeld verlagerte sich die Lauben abwärts: Francesca war unbeschadet davongekommen. Sie klopfte sich die Mantelärmel ab, und als sie weiterging, überkam sie eine jähe Traurigkeit, deren Ursache sie sich nicht erklären konnte. Geh zurück an die Arbeit und verlier keine weitere Zeit, sagte sie sich. Sie wohnte im Bahnhofsviertel, und deshalb stand sie schon wenige Minuten später vor ihrem Haustor. Stampfend befreite sie ihre Schuhe vom Schnee, leerte ihren Briefkasten und stieg die Treppe hinauf, während sie die Titelseite der Zeitung überflog.
    WINTEREINBRUCH: JAHRHUNDERTSCHNEEFALL ZU ERWARTEN, las sie und dachte: Wieder mal typisch, ausgerechnet jetzt, wo ich meine Dissertation abgeben muss. UNFÄLLE IM GEBIRGE, VERKEHR KOMMT ZUM ERLIEGEN. Die Meteorologen sagten weitere Schneefälle für den Nachmittag und Abend voraus. Vorläufig seien die Straßen noch befahrbar, aber laut Meteo-Schweiz sei gegen Abend mit bis zu 120 Zentimetern Neuschnee auch in tiefen Lagen, bei einem Gewicht von 150 Kilogramm pro Quadratmeter, die Gefahrenstufe 3 erreicht. GANZ TESSIN UNTER EINER SCHNEEDECKE.
    Francesca fror schon bei der Lektüre.
    Sie legte Zeitung und Post auf dem Tisch ab und drehte die Heizung höher; dann merkte sie, dass sie Hunger hatte. Dabei hatte sie doch erst gegessen. Vielleicht regt Schnee den Appetit an, dachte sie. Sie setzte den Wasserkocher auf und holte sich eine Schachtel Schokoladenkekse aus ihrem Vorratsschrank.
    Auf dem Esstisch gab es fast keinen freien Zentimeter, Bücher, Kopien, Notizen, Computer und Drucker beanspruchten allen Platz. Francesca trank ihren Tee lieber in der Küche, wo sie Kekse futtern und die Post durchschauen wollte.
    Ein großer Umschlag aus gelbem Papier weckte ihre Neugier. Sie öffnete ihn und fand darin einen zweiten, etwas kleineren Umschlag mit der Aufschrift: BITTE WEITERLEITEN AN ELIA CONTINI - DRINGEND - VERTRAULICH. Francesca starrte entgeistert auf die Schrift - es war, als hätte ihr jemand in einem Moment der Unaufmerksamkeit einen Schlag versetzt. Was mach ich jetzt?, dachte sie nach dem ersten Schrecken.
    Sie las die Absenderadresse: DESOLINA FONTANA, 6966 VILLA LUGANESE. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich bemühte, darüber hinwegzukommen. Sie wollte nicht an Contini denken, geschweige denn ihn sehen. Vielleicht konnte sie, wenn sie sich anstrengte, wieder vergessen, dass sie diesen Brief je erhalten hatte.
     
    Aus dem Dickicht, aus der Deckung einer uralten

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