Am Grund des Sees
sich. Dann sagte er, klarer: »Ich habe Sie gefragt, wie konkret die Vermutung ist, dass sich unser Verdächtiger im Wald versteckt hält?«
»Einer unserer Beamten«, antwortete De Marchi, »hat eine Bewegung zwischen den Bäumen mitbekommen.«
»Ja, und Spuren?«, fragte Tettamanti.
»Schon möglich«, sagte der Kommissär, »aber es schneit ja in kürzester Zeit alles zu. Jedenfalls wissen wir aufgrund der in der Bevölkerung von Corvesco durchgeführten Befragungen, dass Contini angeblich eine Art Unterschlupf am Berg oben hat, eine Hütte, in der anscheinend eine Art Einsiedler lebt.«
»Ah, der Einsiedler, der fehlt mir grad noch …«, murrte Rodoni.
»Wie auch immer, nachdem wir die Straße überwachen lassen und Contini offensichtlich nicht im Dorf untergetaucht ist, erscheint der Wald wohl am naheliegendsten.«
»Vielleicht«, sagte Rodoni. »Läuft die Fahndung?«
»Nicht offiziell.« Bernasconi fühlte sich abermals genötigt, das Wort zu ergreifen. »Es liegt eine interne Mitteilung vor, aber eine Presseverlautbarung habe ich noch nicht vorbereitet.«
»Dann lassen Sie das vorläufig noch«, sagte Tettamanti. »Versuchen wir es. Schicken wir jemanden in den Wald, der ihn sucht, ohne dass es die Presse erfährt. Was meinen Sie, Kommissär?«
»Hm.« De Marchi nickte. »Ist vielleicht eine Idee. Auch deshalb, weil die Presse, falls Contini sich verletzen oder abstürzen sollte …«
Auch diesmal blieb der Satz unvollendet.
Der Schnee wich weiterem Schnee und dann einem Wind, der winzige, wie Feuer brennende Eiskristalle vor sich herfegte. Bei jedem Schritt dachte Contini an die Muskeln, die arbeiten müssen, um einen Fuß aus dem Schnee zu ziehen, vor den anderen zu setzen, das Gewicht des Körpers zu stützen.
Es war fast dunkel. Vor Anstrengung rann ihm der Schweiß herab, aber seine Zehen spürte er nicht mehr. Vielleicht ist gar nichts in meinen Stiefeln, dachte er, und bei der Vorstellung leerer Wanderstiefel musste er lachen; er lachte laut, hysterisch.
Ah, so viel Schnee, so viel Schnee und du ohne Füße, kein Wunder, dass du nicht vorankommst. Das ist dasselbe wie unter Wasser schwimmen, die Hand an die Mauer deines versunkenen Hauses stützen. Und zwei Leichen auf dem Grund des Sees. Eingesperrt in eine Truhe, damit sie ja nicht herauskommen.
Er stolperte und fiel in den Schnee. Er rappelte sich auf, klopfte sich ab, ging weiter. Wie gern er erzählt hat, sein Vater. Jagderlebnisse erzählte er oder Anekdoten aus seinem früheren Leben als Polizist. Und er, der Sohn, fragte nie nach, auch wenn er merkte, dass manches erfunden war. Jetzt hingegen …
Wieder fiel er hin, und das überraschte ihn so, dass es ihm den Atem verschlug.
Da war er, als hätte er ihn gerufen. Ja, es war sein Vater. Da müssen Sie sich irren: Ich heiße nicht Contini. Erkennst du mich nicht? Man müsste eine kurze Rast einlegen, aber so viele Fragen, zu viele Fragen …
Wo warst du denn die ganze Zeit?
Während ein Teil von ihm wusste, dass er fantasierte, versuchte ein anderer Teil zu verstehen, was sein Vater sagte. Das war nicht leicht. Er kauerte im Schnee und dachte an Tommi, an Desolina, beide ermordet. Wer war vor ihm im Haus gewesen, wer hatte den Schuss abgefeuert? Auf wen schießt Herr A?
Er merkte, dass er im Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren, aber er hatte keine Kraft, dagegen anzukämpfen. Morgen antworte ich, morgen kriegst du eine Antwort auf deine Fragen. Auf wen schießt er? Auf wen schießt er? Er konnte die Augen nicht mehr offen halten, er hatte Schnee im Mund; aber unmittelbar bevor es dunkel wurde, stand ihm wieder ein Bild vor Augen, und eine Stimme war in seinem Ohr, und jetzt war er sicher. Wie schlau, dachte er, wirklich schlau. Jetzt kannte er den Mörder, jetzt wusste er, wer Desolina und Tommi Porta umgebracht hatte.
Aber zu spät.
21
Desolinas Geheimnis
Bevor er wieder sah, bevor er riechen und fühlen konnte, trieb ihn ein langer Traum um. Erst spürte er intensive Kälte, dann breitete sich von innen her eine Hitze aus und er begann zu schwitzen, als hätte er eine Wüste in sich.
Irgendwann begann er eine Veränderung wahrzunehmen: ferne Geräusche; ein Licht, das sich auf- und niederbewegte, begleitet von einer Salve von Schlägen, paf, paf, paf, mit unterschiedlicher Kraft ausgeführt.
Es verging eine Zeit. Er schlief, er wachte auf, er dachte: Ein Feuer. Er lag vor einer Feuerstelle und hörte das Knacken und Knistern brennender Scheite.
»Aha,
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