Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
Vom Netzwerk:
Kastanie, aus dem Unterholz, blickten die Füchse ihm aufmerksam nach. Der Schnee wirbelte unaufhörlich vor Continis Augen herab, und er wusste, dass die Füchse ganz in der Nähe waren. Das ist mein Wald, dachte er, es ist meine Geschichte.
    Das Gelände wurde immer unwegsamer, jeder Schritt kostete Kraft. Aber er musste weiter. Nie in all den Jahren hatte er so deutlich seinen Vater gesehen. Bei ihm käme keiner auf die Idee, dass er mal Polizist gewesen ist, hatte jemand über ihn gesagt. In schrägen Strahlen fällt die Nachmittagssonne durch sommergrüne Baumkronen, und Contini beobachtet seinen Vater, der im Wirtshausgarten Bier trinkt. Sein Vater, der ihm die Göttliche Komödie nacherzählt. Der ihm beibringt, Holzflöße zu bauen. Ist eine brotlose Kunst, sagt er mit seinem typischen Grinsen, aber man muss es trotzdem gut machen.
    Und ein Lügner war er! Wenn er jemanden traf, den er von seinem früheren Beruf her kannte, tat er, als wäre er ein anderer. Nein, wirklich, da müssen Sie sich irren: Ich heiße nicht Contini. Und danach zwinkerte er seinem Sohn zu, als hätten sie gemeinsam ein kleines Ding gedreht.
    Das Schlimmste war nicht der Wald, sondern die ansteigenden Alpwiesen. Weil er dort viel tiefer einsank als im Schutz der Bäume, kam er nur noch schneckenlangsam voran, und der peitschende Wind nahm ihm den Atem und trieb ihm den Schnee in die Augen. Er war nahezu blind.
    Ein Schauspieler war er, sein Vater, auch wenn er nie auf einer Bühne gestanden hatte. Vielleicht wollte er wirklich nicht Ernesto Contini sein. Er redete, und er schwieg. Manchmal war er tagelang verschwunden, und wenn er wiederkam, erzählte er Geschichten, die er sich ausgedacht hatte. Vielleicht hatte er eine Frau. Vielleicht war auch das eine Lüge.
    Elia war zu jung gewesen, um es zu wissen. Und jetzt, während er sich vorgebeugt durch den Schnee kämpfte, war er wenige Schritte von seinem Vater entfernt. Der Anblick der beiden Mumien auf dem Grund des Sees, der sich ihm eingebrannt hatte, zersplitterte zu einer Folge von Bildern, die sofort wieder verblassten, sobald er versuchte sie heranzuholen. Ernesto Contini, der in seinem Weinberg arbeitet, der einen Apéro auf der Piazza trinkt, und da, jetzt streitet er sich mit jemandem, nicht laut, er wird ja nie laut, aber knurrend wie ein in die Enge getriebener Hund. Mit wem streitet er? Da ist er lachend, er geht mit einem zweiten zum Angeln, da ist das Bild von Luigi Martignoni.
    Der Tresalti war zugefroren und verschneit. Mit zwei Schritten hatte er ihn überquert.
    Ernesto Contini war Martignonis Freund. Die beiden kamen aus zwei verschiedenen Welten, aber sie hatten offensichtlich gemeinsame Gesprächsthemen. Redeten sie über Geschäftliches, über Geld? Hatte sein Vater Finzi gekannt? Wusste er von den Intrigen rund um den Bau des Staudamms?
    Warum, warum hatten sie ihn umgebracht?
     
    »Das hätte es wirklich nicht gebraucht, diesen Schnee«, kommentierte Staatsanwalt Rodoni nasal.
    »Nein.« De Marchi war stocksauer. »Vor allem hätte man ihn nicht so leicht abhauen lassen dürfen. Alles wartet auf eine Verhaftung, und wenn wir uns dann endlich aufraffen …«
    Der Satz blieb unvollendet.
    Außer De Marchi saßen in Rodonis Büro der Kripochef Tettamanti sowie der Pressesprecher Romeo Bernasconi, ein kleiner rundlicher Mann, der nicht gern viele Worte machte, um sich nicht womöglich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Unter den gegebenen Umständen jedoch fühlte er sich zu einer Bemerkung genötigt: »Trotz des meteorologischen Ausnahmezustandes können wir jedoch, glaube ich, den gescheiterten Verhaftungsversuch nicht verschweigen. Zu viele wissen Bescheid, angefangen bei diesem Pietro Villa.«
    »Wie verhalten wir uns?«, fragte Tettamanti.
    »Können wir nicht noch ein bisschen abwarten?«, fragte De Marchi.
    »Sicher«, antwortete Rodoni, »aber inzwischen ist Contini imstande und verschwindet über alle Berge oder tut sonst was Unüberlegtes.«
    De Marchi blickte skeptisch drein, sagte aber nichts. So kontrolliert, wie er Contini kannte, konnte er sich nur schwer vorstellen, dass der Mann je irgendetwas Unbedachtes tat. Freilich war auch schwer vorstellbar, wie er drei Männer und eine alte Frau ermordet oder jedenfalls Beihilfe zu ihrer Ermordung geleistet haben sollte. Aber allem Anschein nach …
    »Kommissär, hören Sie mir zu?«, fragte der Staatsanwalt ungeduldig.
    »Ja, natürlich, entschuldigen Sie.«
    Rodoni nieste und gab Unverständliches von

Weitere Kostenlose Bücher